In dieser Kategorie meines Blogs findet etwas ganz Besonderes statt:
Autoren, Lyriker und Leute aus dem Kulturbetrieb besprechen fremde Texte, ohne den Verfasser zu kennen.
Die Regeln:
Ich suche für jeden teilnehmenden Schreiberling ein Gedicht oder einen kurzen Prosatext aus meiner oft etwas obskuren Bibliothek heraus und übersende ihm diesen ohne Autorenangabe. Es herrscht strengstes Suchmaschinenverbot!!
Der teilnehmende Autor bespricht nun spontan und subjektiv den von mir ausgewählten Text, äußert seine Assoziationen und versucht, die Herkunft einzukreisen. Erst im Nachhinein verrate ich den tatsächlichen Verfasser.
Ein sicher aufschlußreiches und interessantes Spiel, das hoffentlich einiges über den individuellen Zugang zu Literatur verrät.
Bisher haben mir:
Jost Renner
Thyra Thorn
Anke Laufer
Paul Fehm
Hanna Scotti
Arnd Dünnebacke
und Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
die Ehre gegeben.
HEUTE NUN:
Die 10.Folge -Blindverkostung-
ein kleines Jubiläum, das eine Spezial-Folge rechtfertigt, denke ich!
Anders als bei den 9 vorangegangenen Folgen stellt sich nicht EIN Autor einem Text, dessen Verfasser er nicht kennt, sondern gleich DREI!
Mutig und motiviert erklärten sich
Stefanie Jerz, Hanna Scotti & Sebastian Schmidt
bereit, sich auf das Experiment einzulassen und so präsentierte ich Ihnen unten stehendes Gedicht, ohne irgendwelche weiteren Informationen. Meine Fragen beantworteten sie im für diese Zwecke hervorragend geeigneten Service: edupad.ch, der einen direkten Austausch und spannende Interaktion ermöglicht. So präsentiere ich nun mit Freude unsere 10. Folge und wünsche viel Spaß mit der literarischen Schnitzeljagd meiner drei Probanden!
Hier der Text, den ich den Dreien vorlegte:
Eine Rückschau beim Herunterzählen der Sekunden vor dem Jahreswechsel? Schlaglichter kommen ins Gedächtnis, überlagern sich….
„War das im Frühling? Nein, im Sommer! Ich weiß noch, als dies und das geschah, da machte ich gerade….“
Beamen wir uns mittels modernster Technik einmal zurück zum Jahreswechsel 1986/87.
Was da an großen und kleinen Ereignissen allein aus der ersten Hälfte des Jahres zusammenkommt, liest sich ein Stück weit wie ein Strickmuster für den Text, den Stefanie, Hanna, Sebastian und ich heute ohne diesen zeitgeschichtlichen Kontext zu kennen, verwurstet haben:
Helmut Kohl ist Bundeskanzler (und wird es noch lange bleiben)
Deutschland unterliegt im WM-Finale Argentien mit 2:3.
Die meisten Eltern nennen ihre Kinder Julia oder Alexander.
1000 Menschen sterben bei einem Erdbeben in San Salvador.
Mike Tyson wird nach K.O.-Sieg in der 2. Runde über Trevor Berbick mit 20 Jahren jüngster Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten
Michail Gorbatschow fordert erstmals Glasnost.
Die US-Raumfähre Challenger bricht kurz nach dem Start auseinander. Alle sieben Astronauten kommen ums Leben.
Der Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, sein Chauffeur Eckhard Groppler und der deutsche Diplomat Gerold von Braunmühl werden durch einen Bombenanschlag der RAF getötet.
Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl.
In Berlin schreibt der 34jährige Germanist und Autor Hans Ulrich Treichel sein Gedicht: Rückwärts.
…wir lassen uns rückwärts auszählen, der Himmel ist trüb, die Schornsteine glühen, aus dem Sessel kippen vor dem großen Knall….
Hans Ulrich Treichel, 1952 im westfälischen Versmold geboren, zählt zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren.
Promoviert über Wolfgang Koeppen begann der Germanist in den späten 70er und frühen 80er Jahren als Lyriker seine Autorenlaufbahn. Einige Gedichtbände erschienen seit 1979. Jedoch wandte sich Treichel in den 90er Jahren auch der Prosa zu und schuf mit dem autobiographischen Roman Der Verlorene eines der meist übersetzten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur.
Der Autor thematisiert hier seine Kindheit als Spross von Eltern, die als Vertriebene aus den Ostgebieten in Westfalen gestrandet waren. Der Schatten des auf der Flucht verlorenen älteren Bruders lastet auf ihnen und auch dem erst nach dem Krieg geborenen Ich-Erzähler. Seine Heimat Ostwestfalen (dem merkwürdigen Namen für ein Irgendwo/Nirgendwo) ist dem heranwachsenden Anti-Helden sein eigenes, privates Sibirien, denn der Osten, aus dem die Familie stammt, ist irgendwie Russland und noch östlicher ist dann ja nur noch Sibirien…
Diese unwirtliche und emotional kalte Umgebung verließ Treichel allerdings recht bald, ging nach Berlin, wo er viele Jahre lebte. Er lehrt seit 1995 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und verkörpert m.E. in vielerlei Hinsicht mittlerweile so etwas wie eine gesamtdeutsche Autoren-Biographie und hat sich schon früh und seitdem dauerhaft mit Fragen wie einer deutschen Identität befasst.
Seine Lyrik ist schmucklos, einfach, oft mit einem (selbst-)ironischen Unterton ausgestattet. Virtuos kann Treichel darin zwischen der abgeklärten Sachlichkeit eines Dr. Benn und dem klugen Hinterfragen des Status Quo im Stile eines Bert Brecht hin- und herwechseln. Ein leiser Humor und ein zaghaftes dennoch ziehen sich sowohl durch seine lyrischen als auch durch seine erzählerischen Werke. Und: Pathos ist seine Sache nicht, dafür die Langeweile. Niemand dekliniert so viruos, so konsequent und so unterhaltsam die ewigen, eintönigen Widerholungen des Lebens im Kleinen durch.
Das Gedicht, das ich euch vorlegte: -Rückwärts- stammt aus und ist zitiert nach seinem 1986 erschienenen Band -Liebe Not-
Suhrkamp 1986
ISBN: 978-3518113738
Jetzt könnte man einen solchen Jahresrückblick mit den verlässlich stattfindenden, regelmäßigen Katastrophen eigentlich zu jedem Silvester schreiben- dennoch kommt hier ja noch die Facette des sich bescheidens ins Spiel, das ihr ganz richtig erkannt habt. Allerdings nicht unter völliger Ausklammerung des Fragezeichens, das dahintersteht. Ich höre es in den letzten beiden Zeilen recht deutlich: ist es so? Ist dem, der sich mit seinem gemütlichen Jahreswechsel-Fest bei Fondue und Sekt zufrieden gibt, wirklich die Wüste ein Wald -angesichts im- und explodierender Technikträume, Naturkatastrophen und wunschlosem Unglück? Können wir schon zufrieden sein, wenn in unserem Land, in unseren kleinen Verhältnissen Ruhe herrscht, wenn sie denn auch an Langeweile grenzt? Ein warmer Ofen in den eigenen vier Wänden? Kein Krieg vor der Haustür und der große Knall weit genug entfernt, um hier lediglich als kleines Puff hörbar zu werden….?
Ich danke herzlichst meinen drei Probanden. Ohne ihre Bereitschaft, sich gehörig den Mund zu verbrennen und eventuell völlig blind herumzutapsen, wäre diese Folge nicht zustande gekommen! Sie haben ihre Aufgabe mit Bravour bestanden, finde ich!
Die letzten Worte dieser XXL-Folge -Blindverkostung- soll aber den fleißigen Verkostern gehören! Hat`s geschmeckt?
Judith Faller, geboren am 13. April 1960 in St. Gallen. Lebt und schreibt zur Zeit in Winterthur.
Sie absolvierte eine pädagogische Erstausbildung (Arbeit mit diversen Altersstufen) und arbeitete als freie Journalistin bei einer Tageszeitung über: Kunst – Kultur – und Frauenthemen. Weiterhin verfügt Judith über verschiedene Körpertherapieausbildungen, darunter Kunst-und Audruckstherapie. Vielen Jahre arbeitete sie in Psychiatrischen Kliniken. Zuletzt auf einer Borderlinestation mit jungen Erwachsenen.
Bibliographie:
Lyrikband Wachstumsschmerzen, März 2012. Zweitauflage im September 2012.
Veröffentlichungen von Gedichten, Texten und Kurzgeschichten in literarischen Zeitschriften oder OnlineLiteraturPortalen.
Diverse Rezensionen und einiges mehr sind auf Judiths Website zu lesen: http://www.judith-faller.ch/
Mehr über die Autorin gibt es außerdem hier:
http://www.autorinnenvereinigung.eu/
http://www.femscript.ch/
https://www.facebook.com/pages/Faller-Judith-Wachstumsschmerzen/264775616987171
Ich schätze Judith seit einiger Zeit für ihre Gedichte, ihren tollen, oft skurrilen Humor und Wortwitz und für die Begeisterungsfhigkeit, mit der sie an ihre jeweiligen Projekte herangeht. Zur Zeit arbeitet Judith Faller an einem neuen Lyrikband, Kurzgeschichten, einer Erzählung und anderen grösseren Projekten. Neue Veröffentlichungen kommen bald! Umso mehr freue ich mich, dass sie Zeit für dieses kleine Experiment gefunden hat. Danke dafür!
Hier nun der Text, den ich Judith vorlegte:
und: was ihr dazu einfiel:
Stimme im Dunkel
Ein „heiteres“ Paar habe ich da angetroffen, mehrere Paare sogar. Eine Aufgabe, die sich zusammenfügt aus Blind-Verkostung und Stimme im Dunkel. Schon diese Gemeinsamkeit verdient eine Würdigung, sei sie auch nur zufällig entstanden. Wer sucht der findet.
So soll ich mich also blind auf den Weg durch ein Labyrinth begeben, in welcher mir die Stimme unbekannt und ferne liegt. Ich tue es, ganz assoziativ!
Entdecke eine Stimme, die nicht zu hören, höchstens zu erahnen ist. Denn es gibt sie nicht. Und deshalb wird sie nie im Chor zu hören sein. Sie bleibt für immer ein einsamer Sänger, ein Solist, der uns Lebendiges entreisst und zugleich an seiner eigenen Einsamkeit erstickt. Wir geben ihr eine Stimme, weil wir dies Unerträgliche des Nichtseins nur ertragen, indem wir ihr Gestalt und Stimme geben, sie uns angleichen. Eine mystische Mitteilung an uns Lebende, indem wir ihr eine Botschaft in den nicht vorhandenen Mund legen. Der Name Shakespeare lässt meinen eigenen Mund trocken werden, der Thematik im Gedicht erinnert mich an die Dramatik in Zeiten der Romantik, also in etwa im 16. /17. Jahrhundert. Ich finde in diesem Gedicht all das, was mir so gar nicht zusagt, mich nicht in hineinzieht in die Art des Ausdruckes.
Zu dramatisch für mich, zu theatralisch, zu blutrünstig, wenn auch das Blut und alles andere nur in meiner eigenen Fantasie zu sehen sind! Gut möglich, dass es lediglich durch die Andeutung von hinter den Worten liegender Dramatik auf eine völlig andere Zeit hinweist, und nur mein eigenes Herz in der alten Zeiten dort weilt…
Die erwähnte Monstranz, und somit die symbolische Einbindung der katholischen Kirche in meinem vorliegenden Text, dem Auftauchen des Herzens Jesu, dargestellt als aufgerissenes und blutrotes Herz im reinen Gewand, sehen wir im Staube liegend. Ein Symbol für Respektlosigkeit oder wiederum dem der Vernichtung und der Auflösung? Hinter Glas wird manchmal in einer Monstranz das gemalte Herz festgehalten, in einem tragbaren Gefäss aus Metall oder Olivenholz, wohl, dass es nicht davonfliege in seinem Wunsch nach lebendig sein. Womit auch das Bild der Auferstehung für einen Moment darin aufblitzt. Bis dato werden diese Monstranzen auch in der griechisch orthodoxen Kirche als Symbol des Lebens und Sterbens Christi in den meisten Kirchen nahe des Einganges aufgestellt, damit ein Jeder, der die heiligen Hallen betrete, diese in Ehrfurcht und tiefer Liebe küssen möge. (Die Bakterien die sich dadurch unter den Menschen verteilen, seien eine Metapher für sich, die jedoch bis zum Tode führen kann.)
Der in meinen Augen gesichtslose Tod im dunklen Gewand, der Fährmann, an der Seite der Schiffe dargestellt die uns hinüber geleiten sollen, wurde zum Unbekannten, Namenlosen, Stimmlosen, der in seiner eigenen Einsamkeit nie ein festes Ufer erreichen kann. Durch die Unendlichkeit, dem nie Endenden führt sein Kommen und Gehen, gerade so, wie auch Sisyphos, dem Listigen, Schlauen, Schalkhaften aus der griechischen Mythologie, der den Göttern auf den Putz haute, und dem Todesgott Thanatos ein Schnippchen schlug, ihn fesselte und dadurch den armen Toten wohl den Zugang zum Hades verunmöglichte.
Ich finde mich nun selber mit einer altbackenen Sprache in verschiedenen Zeitaltern und ihrer Symbolik wieder, wie ich versuche, meinen Assoziationen nach zu schwimmen, die mir davon schwimmen, wie die Felle auf dem Fluss des Vergehens, und bleibe bei Themen, die den meisten von uns Zeit unseres Lebens Angst und Ungemach bereiten, stecken. Denn nie gerät der Mensch mehr an seine Grenzen als dann, wenn er nicht fassen kann, was unfassbar bleiben soll. Die Auflösung der Gestalt, der Stimme des Menschen, des Lebens an sich. Dem Tode, der auch als Schlafes Bruder, mit verwelkten Blumen am Herzen des Lebens darnieder liegen muss.
Zwischen Katholizismus und Schlacht befinde ich mich, so zumindest erlebe ich es gerade. Da wird der Tod zu einer eigenständigen, einsamen Figur, er liegt der Nacht zur Seite, der einzigen Dunkelheit, die ihm selber mehr als bekannt, und die ihm nahe ist. Im ersten Moment dachte ich sogar an Schlafes Bruder, welcher somit die Brücke durch die Zeiten, ins Heute schlagen würde.
Fazit für mich: So wie dem Tode die Hand des Lebens entgleitet, entgleiten muss, weil das Paradoxe, das Werden und Vergehen nicht aufgehoben werden kann, entgleitet mir das Gedicht, welches mich abstösst und anzieht in einem.
Ich habe keine Ahnung, wer es geschrieben hat!
Stellen wir uns also einen jungen Helden mit Halskrause vor, der am Bühnenrand die Hand auf die Brust legt und mit sehnsuchtsvollem Blick ins Nichts folgende Zeilen deklamiert:
“Oh, so alone with me am I!
The night calls me brother for my dress is dark.
All roses are withered at my chest.
The barges draw to red horizons without me;
never my voice drunk wirh songs
my hand is screaming into a swoon for an other.“
Shakespeare?- Denkbar?-Warum nicht?!
Was jedoch auffällt, ist die dann doch etwas zu moderne Metrik und der Verzicht auf Reime-überhaupt: die zu freie Form.
Könnte man es mit einer modernen Übersetzung zu tun haben, die sich diese Freiheiten nimmt, etwa wie die, die Helmut Krausser kürzlich von den Sonetten von Old-Willie-Boy vorgelegt hat?- Erneut: denkbar!
Eine interessante Assoziation, die Judith da äußert! Da auch Shakespeare die “großen” menschlichen Regungen und Triebe thematisiert: Liebe, Neid, Tod, etc., ist dieser Text mit seinen Todes- und Schmerzmotiven viellecht gar nicht soo weit davon entfernt.
Dennoch, wie gesagt: etwas mit der Form stimmt da nicht.
Auf den ersten Blick wirkt das Ganze recht klassisch. Wir haben Strophen, wir haben Verse von ähnlicher Länge-
aber allein mit dem Blick auf die Zeilenenden stellen wir fest, dass hier kein Reim stattfindet, sogar eher klangliche Dissonanzen benutzt werden.
Nun gut, kann man sagen, den Endreim warf man in Europa auch schon ca. 1870 über Bord!. Dennoch hielten sich klassische Formen und Reim noch ausgeprochen widerstandsfähig bis in die 50er Jahre und darüber hinaus. (Man sehe sich nur mal die ganzen klassichen Sonettkränze an, die in Internet-Dichter-Foren geflochten werden.)
Da ist also zeitlich nicht viel herauszuholen. Auch die schon erwähnten “archaischen” Gefühle des lyrischen Ichs lassen keine Rückschlüsse auf die Entstehungszeit zu, denn geliebt und gelitten hat wohl auch schon unser breitstirniger Freund Homo Neandertalensis. Keine Geschirrspülmaschine, kein Zebrastreifen, kein Zeitgeist irgendeiner Form lassen hier irgendetwas eingrenzen.
Wenden wir uns näher dem Inhalt zu. Was haben wir denn hier? Wenn es um ein ICH und ein DU geht, liegt meist ein Liebesgedicht ziemlich nah. Das ist hier der Fall, wenn auch das DU erst in der letzten Zeile auftaucht. Aber davor?- da ist man einsam, da ist alles dunkel, die Rosen welk und die Kähne an die roten Horizonte sind schon wieder ohne Einen abgefahren! Gelitten wird da- einsam und deutlich.
Mir fällt plötzlich auf, dass es gar nicht zwingend ein Liebesgedicht sein muss. Es könnte auch einfach einen Menschen, sprechend aus einem irgendwie gearteten Dunkel, darstellen könnte. Der Knackpunkt wäre dann allerdings das DU. Wer sollte es dann sein, wenn kein Geliebter, der nicht wiederliebt? In vielen Gedichten dieser intensiven Art fiel mir schon auf, dass man den Begriff Liebe recht oft und einfach durch Gott ersetzen könnte- eine höchste Instanz gegen die Andere. Die Monstranz im letzten Abschnitt rückt den Text ja in die Nähe der Religion…
Judith spürt sehr stark die düsteren Elemente dieses Textes, riecht sogar Blut, wo eigentlich gar keines vorkommt. Aber es stimmt schon: Der Verfasser/die Verfasserin dieses Textes legt da so ein paar Spuren: die Rosen, die ja bekantlich gern im Märchen oder in der Realität mit ihren Dornen kleine rote Tropfen produzieren; (man stelle sich mal einen üppigen Rosenstrauß vor, gepresst an eine nackte Brust..) die Kähne liest Judith zu Recht auch als Barke über den Fluß ins Jenseits und spätestens das Herz provoziert ein blutiges Bild- ist es doch die “Schaltzentrale” unseres Blutkreislaufes. Dieses dann herausgeschnitten (z.B. als Beweis für die Königin, dass Schneewittchen wirklich starb), ist definitiv eine blutige Angelegenheit und ein Akt der Gewalt.
Vanitas-Motive, wo man hinsieht und Judith erkennt sie richtig als oft beinahe archetypische Symbole:
Ein dunkles Kleid- man geht in Trauer
Die Nacht –die Romantiker sahen hier die Zeit für alles Dunkle, auch im Menschen
Welke Rosen
Die Kähne- einmal Jenseits, einfache Fahrt
und dann die Monstranz. Ein christliches Motiv. Von lat. monstrare “zeigen”. Etwas, was man herzeigt, offenlegt, zur Verehrung öffentlich macht. Wer würde sein Herz (den Sitz der Gefühle) freimütig zur Schau stellen?- Der Liebende!
Und was geschieht damit? Es liegt im Staub, vor den Füßen des DU. Des Angebeteten? Weist hier Jemand das Allerheiligste zurück, das ihm geboten wurde? Ich denke, dahin geht die Reise wohl. Verschmähte Liebe.
Freude gibt es hier nicht. Gesungen wird nicht; die Blumen sind verblüht- einzig die roten Horizonte versprechen etwas, aber der Kahn hat ja schon abgelegt. Man ist jetzt allein und einzig: Bruder der Nacht.
Ein (recht simples?) Liebesgedicht trauriger Art? -Ja, vielleicht!
Dennoch finde ich, sollte die Gestaltung noch einmal geprüft werden.
Es sind schon ziemlich “heftige” Bilder, die hier verwendet werden und die Judith verständlicherweise sogar etwas abgestoßen haben.
Da wird in Ohnmacht geschrieen, da ist viel Tod und Schmerz, endend mit einem (zwar nur bildlich, aber dennoch:) herausgerissenem Herzen!
Schon ein wenig extrem, schon ein wenig morbide. Der Liebesschmerz mag derart heftige Emotionen rechtfertigen, doch sie geben in ihrer Darstellung auch einen Hinweis auf die Epoche, aus dem das Gedicht stammt.
Heute mögen uns Metaphern wie “schreiende Hände” und Sätze wie “die Nacht nennt mich Bruder” nicht mehr allzu mutig erscheinen- in seiner Zeit jedoch war dies durchaus ein typisches und modernes Gedicht. Das Pathos vieler älterer Texte stößt uns heute oft etwas ab- ich habe mir angewöhnt, diese Art Text für mich nüchtern zu lesen und oft ist die Wirkung dann ganz anders.
Der Schrei der Hand könnte schon ein Indiz sein. Sturz und Schrei, so ist ein Kapitel aus Kurt Pinthus` Menschheitsdämmerung überschrieben, dem ersten Manifest des Expressionismus.
Der Sturm, der rote Hahn, die Aktion: so hießen die literarischen Zeitschriften dieser Zeit von etwa 1910 bis 1925 und Else Lasker-Schüler schrieb: “es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär”
Auch ein wenig Herzeleid, auch ein wenig Christentum, auch Tod, auch Trauer. Eigentlich keine gewagte Form, eigentlich kein gewagtes Vokabular- aber sehr sehr ausdrucksstark.- Und genau in diese Zeit fällt die Entstehung dieses Textes.
Von der Verfasserin (hätte Jemand daran gezweifelt, dass es von einer Frau stammt?) ist leider nicht allzu viel bekannt, daher fallen die großen autobiographischen Bezüge dieses Mal zwangsläufig aus.
Von Elisabeth Joest weiß man mit 1893 genau ein Geburts- aber z.B. kein Sterbedatum.
Um 1920 herum erschienen einige ihrer Gedichte in Zeitschriften und einige wenige Bücher mit Novellen, vornehmlich im Georg Müller Verlag in München. Sie zählt leider nicht zu den großen Namen ihrer Epoche, aber das ging vielen Frauen dieser Zeit so. In der Regel waren ihre Texte eine kleine Spur leiser als die Leichenschauhauslyrik des Dr.Benn oder die leicht kabarettistischen des Jakob van Hoddis. Man musste als Frau schon die Verbindungen und das Auftreten der großen Lasker-Schüler haben, um ähnlich wahrgenommen zu werden.Wenn dann, vor der Zeit der Geburtenkontrolle, noch ein Kind dazukam oder -wie so oft- ein dominanterer Mann, griffen dann, bei aller Boheme, die Bindungen der Geschlechterrollen doch. Es gibt eine Menge von Autorinnen dieser Zeit, die leider fast nur noch als “Anhängsel” der “größeren” Männer in den Literaturgeschichten auftauchen. Emmy Ball-Hennigs ist: die Frau von Hugo Ball, Lola Landau: die Geliebte von Armin T.Wegener, Claire Goll: die Frau von Yvan Goll usw… . Oftmals jedoch bereicherten diese Autorinnen die Literatur ihrer Zeit um neue, “weibliche” Tonfälle und Bilder. Elisabeth Joest ist dafür ein gutes Beispiel, wie ich finde und sicher eine Beschäftigung wert.
In der wunderbaren Anthologie “In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod” hat Hartmut Vollmer die Texte dieser Frauen gesammelt und zum Teil vor dem endgültigen Vergessen gerettet. Von kaum einer dieser Autorinnen gibt es lieferbare Einzelbände.
Manche, wie Elisabeth Joest, haben nicht einmal ein Sterbedatum!
Sicherlich ist dieser Text nicht DAS Gedicht seiner Epoche, aber durch seinen Hintergrund und seine Gestaltung dennoch eine Betrachtung wert.
Vielen Dank, Judith Faller, für diese wunderbare Folge!
Die vergangenen Folgen der -Blindverkostung- findet man hier:
Folge 1 mit Jost RennerFolge 2 mit Thyra Thorn
Folge 3 mit Anke Laufer
Folge 4 mit Paul Fehm
Folge 5 mit Hanna Scotti
Folge 6 mit Arnd Dünnebacke
Folge 7 mit Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
Folge 8 mit Werner Weimar- Mazur
der Text dieser Folge ist zitiert nach:
In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod –Lyrik expressionistischer Lyrikerinnen
Herausgeber: Hartmut Vollmer, Igel Verlag, Hamburg 2011
ISBN 9783868155266
Werner Weimar-Mazur wurde 1955 in Weimar geboren und wuchs in Karlsruhe auf.
Der studierte Geologe lebt, nach einigen Jahren in der Schweiz, seit 1992 im Raum Freiburg und schreibt seit seinem fünfzehnten Lebensjahr Gedichte und Prosa.
Ich schätze Werner Weimar-Mazurs scheinbar lakonische Gedichte, in denen immer ein warmer und kluger Blick auf die Dinge vorherrscht. Werners ausführliche Beschäftigung mit den literarischen Vorbildern hat ihm ein sehr sicheres und vielschichtiges Handwerkszeug verschafft. Eher leise und präzise spricht der Lyriker Weimar-Mazur. Eher von den kleinen Dingen, in denen oft genug Größeres schlummert.
Werner ist Mitglied im Literaturforum Südwest e.V., Freiburg (Literaturbüro Freiburg) und bei keinVerlag e.V., Erlangen
Derzeit arbeitet Werner an einem Roman, auf den ich sehr gespannt bin.
Werner Weimar-Mazur ist Preisträger des Athmer-Lyrikpreises 2013 und des Hildesheimer Lyrik-Wettbewerbs 2012 sowie Teilnehmer der ersten Lesung des Lyrikpreises München 2013 .
Mehr über Werner, seine Texte und Tätigkeiten findet man hier: www.weimar-mazur.de
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Hier der Text, den ich Werner zur Blindverkostung vorlegte:
und: Was ihm dazu einfiel
Matthias, da ist Dir ja was Feines gelungen, gleich in doppelter Hinsicht: Mich zum Mitmachen überredet zu haben, und mir einen Mord an einem Indianer zu präsentieren, wenn ich den Titel des Gedichtes mal wörtlich nehme (wörtlich nehmen ist bei Literatur immer ein guter Ansatz)!
Wie sage ich mir oft: Mehr als schief gehen kann es nicht, und wenn, ist auch nichts Schlimmes passiert! Nun denn!
Das Ganze hier erinnert mich irgendwie an meine Schulzeit: Gedichte interpretieren habe ich immer gehasst. Heute bin ich überhaupt der Meinung, ein Gedicht zu interpretieren, ist völlig daneben. Und heute weiß ich: Gedichte interpretiert man nicht, deutet sie nicht, man empfindet dabei, und erinnert.
Noch besser ist es, das Gedicht für sich selbst sprechen zu lassen. Wozu hätte es der Autor / die Autorin sonst geschrieben? Für mich wohl? Oder für seinen Indianerbruder. Damit aber endlich zum Text, ganz spontan und unsortiert, wie es meine Art ist, und was mir gestern abend vor dem zu Bett gehen dazu eingefallen ist, nachdem ich noch schnell in meinem „Kleinen Leitfaden für Gedichtinterpretation“ nachgeschaut habe, wie man so etwas angeht (Stichworte: Thema, Titel, Form, Sprache, Inhalt, Fazit).
Indianer. Dazu fällt mir natürlich sofort Karl May ein (wem nicht?), Winnetou und Old Shatterhand, die ewigen Blutsbrüder. Welcher Junge träumt nicht „Vom Wunsch, Indianer zu werden“, womit ich bei Franz Kafka und seiner kleinen, eindrücklichen Prosa dazu angekommen bin, den Büffelherden, dem Gras der Prärie, ein Reiter schief auf dem Pferd, alle sind schon lange nicht mehr.
Und dann schon sofort Kain und Abel. Das Motiv des Brudermordes: Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Vielleicht in Fischerstiefeln im Uferschilf des Zweistromlandes? Ein uraltes Motiv, das bis weit vor den Beginn der Zeit zurück reicht.
Und auf einmal wird das Gedicht fast erotisch (sogar homoerotisch???). Die umschlingenden Brombeersträucher (erinnern mich an irgend jemanden, ich komme nicht drauf), der Würgegriff, die Hingabe, mehr Schmerz als Liebe, unstillbares Verlangen, Bedingungslosigkeit.
Ein christlich-mystifizierter Sakralmord / Ritualmord, der nicht sein darf und doch sein muss, eine Befreiung!
Die Schuhe Petrus tauchen als Motiv auf. Und das Opfer liebt seinen Mörder (jedenfalls aus der Sicht des Mörders, des Lyrischen Ichs).
Überhaupt scheint mir das zentrale Thema des Gedichtes die Frage nach Schuld / Verlust der Unschuld zu sein, und: der Wunsch / die Sehnsucht nach Vergebung, nach Gnade. Ja, das ist für mich der Kern in diesem Text.
Der Autor, die Autorin? Keine Ahnung. Die Zeit? Vielleicht so 1950er / frühe 1960er Jahre vom ganzen Sprachduktus, vom Ton und der Machart her? Oder doch nicht! Ich bin gespannt.
Danke, lieber Matthias für das anregende Gedicht in der Blindverkostung, eine höchst interessante Erfahrung und, ich habe gerne mitgemacht. Tolle Idee, tolle Bibliothek!
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Mein Kommentar:
Ich danke Werner für diese schöne Folge! Eine gute Idee, noch einmal einen Blick in einen Interpretationsleitfaden zu tun, den er sicher gar nicht nötig gehabt hätte. Wie sicher er hier die anklingenden Motive und mitschwingenden Assoziationen erkennt, zeigt, wie gut Werner in den Epochen zu Hause ist.
Der Indianer ruft, neben Karl May und Kafka, sofort den Blutsbruder herbei, womit eine gute Spur gelegt ist.
Aber: BRUDER- da sind wir im christlichen Abendland gleich bei Kain und Abel und tatsächlich haben wir ja einen Brudermord in unserem kleinen Gedicht. Noch mehr christliches fließt hier ein: z.B. mit den Stiefeln im Wasser (Petrus/der Menschenfischer) und ich denke auch an den heiligen Christopherus, der das Jesuskind über den Fluss trägt, an die Taufe im Fluss. UND:Vergebung und Gnade, die von Werner erkannten Themen sind ja durchaus Bestandteile der christlichen Themenwelt.
Weiter: Täter und Opfer lieben sich. Vielleicht denkt Werner bei den Brombeersträuchern an Villons Erdbeeren etc.? Tatsächlich sind Beeren und Früchte ja -nicht nur bei Villon- ein erotisches Motiv (man schaue mal mit Sinn und Verstand Werbung oder Filme). Die Dornen so manches Beerenstrauches bringen die schmerzhafte Komponente der Erotik ins Spiel. Ein Liebesverhältnis a) unter Brüdern, b) nicht ohne Gewalt. Sogar zum Tod führt diese Liebe. Der paradoxe „Würgegriff der Hingabe“ ist hier sicher die zentrale Beschreibung dieser schmerzlichen Liebe.
Aber: wer wird jetzt hier geliebt? Wer ist der Indianerbruder?
Werner sieht es auch: der Indianer ist für viele Jungs ein Kindheitsbegleiter, sei es durch Karl May oder nicht. Man spielt Cowboy und Indianer und der amerikanische Ureinwohner verkörpert Wildheit, Freiheit und Verwegenheit. Verwurzelt in der Natur, verankert in seinem Stamm und seiner Familie, urwüchsig und stark. Ein kraftvolles Identifikationsangebot. Blutsbrüderschaft kann man mit engen Freunden schließen, aber hier ist der enge Verwandte meines Erachtens jemand anderes.
ICH. ICH, das Kind, der kindliche Teil meiner Selbst, der frei, stark und undomestiziert durch die weite Welt der Kindheit schritt und unweigerlich irgendwann starb, vielleicht von mir selbst zu Tode gebracht. Erwachsen werden ist von vielen Kämpfen begleitet, die meisten davon muss man mit sich selbst austragen und etwas bleibt auf der Strecke. Ein Teil von Einem überlebt das nicht.
Vielleicht ist das das Kernthema in unserem kleinen Gedicht mit seinen zum Ende hin immer kürzeren, gehetzten Zeilen.
Formal ist es sicher schwer einem Geschlecht oder einer Zeit zuzuordnen. Tatsächlich stammt es aus dem Jahr 1980 und aus dem Debütband „Aufstehen und Gehen“ unseres heutigen Autors:
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Clemens Eich, (22. Mai 1954 Rosenheim- 22. Februar 1998 Wien), hatte als Sohn von Günter Eich und Ilse Aichinger, dem beiden großen Autoren der Nachkriegszeit, vielleicht die Literatur in die Wiege gelegt bekommen. Er wuchs in der Nähe von Salzburg auf und besuchte von 1971 bis 1974 eine Schauspielschule in Zürich. Von 1974 bis 1979 arbeitete er als Schauspieler in Landshut, am Theater in der Josefstadt in Wien, in Hamburg und am Schauspielhaus in Frankfurt am Main. Eich, der anfangs noch sehr von der Literatur der Eltern geprägt war; von surrealistischen Bildern und kafkaesken Situationen, lebte bis zu seinem Unfalltod als freier Schriftsteller in Hamburg und Wien. Eich erhielt 1980 den Förderpreis der Stadt Mannheim und 1996 den Mara-Cassens-Preis, aber der wirkliche Rang seiner Gedichte und Erzählungen, auch die Qualität seines Romans: Das steinerne Meer wurden erst nach seinem Tod erkannt.
Als Autor stand Clemens Eich in vielem auf der Grenze. Geboren 1954 war er zu jung für die 68er Bewegung und eigentlich für Punk und andere spätere Subkulturen zu alt. Eich hatte sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsangehörigkeit, lebte in Hamburg und in Wien, ohne sich ganz da oder ganz dort zu Hause zu fühlen. Sein Hauptthema, in allen Genres, war das eigene Ich.
Das Motto seines Romans Das steinerne Meer ist der Satz des Holofernes bei Nestroy: „Ich möcht‘ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere ist, ich oder ich.“
Das Gedicht ist zitiert aus:
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Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
nennt sich -trotz seines Namens, der es nicht vermuten ließe- einen Fischkopp. Denn er stammt aus Hamburg, wo er 1984 als Kind zweier Kulturen geboren wurde. Jonas lebt und studiert heute in Freiburg, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Debüt, der Erzählband Umm Nur, wurde sehr positiv besprochen und war für viele Rezensenten zu Recht ein echtes Highlight. Der bekannte österreichische Autor Josef Haslinger sprach von Umm Nur als “einer neuen Mythologisierung der Innenwelt.” Jonas orientalische Wurzeln schlagen sich kraftvoll und lyrisch in der Sprache seiner Geschichten nieder. Duftig, märchenhaft und dennoch modern und rätselhaft kommen die Texte daher. In seinen Erzählungen -so sagt er selbst- versucht er die Innenwelten einzufangen und das, was dazwischen liegt. Er vertritt die Ansicht, das Wort werde gemeinsam von Schreiber und Leser geschaffen, für ihn ist es etwas Intimes, Außergewöhnliches und Unbegrenztes.
Derzeit arbeitet Jonas an seinem zweiten Buch und ist mit dem Vorantreiben des neuen, unabhängigen kladdebuchverlags beschäftigt.
Umm Nur
-Erzählungen-
worthandel : verlag, Dresden
130 Seiten
ISBN 978-3-935259-84-2
14,90 €
nominiert für:
hotlist 2011
sheikh zayed book award 2012
weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften:
„Amor und Psyche“
cross over/ Wettbewerb des Forum SQ (Hg.), 2010.
„Harem“ in IGdA-aktuell. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Heft 4, 2010. ISSN 0930-7079
– Meine ausführliche Rezension von Umm Nur findet man hier:
https://dingfest.wordpress.com/2013/06/09/rezension-umm-nur-von-jonas-navid-al-nemri/
– Mehr über Jonas erfährt man hier: www.al-nemri.de
– Zum kladdebuchverlag geht es hier: http://kladdebuchverlag.de/
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Hier der Text, den ich Jonas zum blindverkosten gab:
ACHTUNG!
Bevor der gute Jonas Schmähbriefe wegen seines respektlosen Umgangs mit dem ihm vorgelegten sensiblen Wortgebilde erhält, weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass die Meinung des lyrischen Ichs in dieser Verkostung nicht unbedingt die Ansichten des Verkosters wiederspiegelt!”
und:
Was ihm dazu einfiel:
Ich bin böse auf dich, Gedicht! Echt. Wieso nicht Rilke, ja oder Romantik oder irgendein Impressionist. Du bist so Nachkriegszeit, so Erich-Fried, so ungeübt. Du versuchst schön zu sein, scheiterst dabei, wie dein lyrisches Ich. Deine Bilder sind nicht einmal mehr kitschig, sondern gänzlich ausgeblasst: Mitten auf einer grünen Wiese. Mitten in einem blauen Bach, mitten auf einem hohen Berg. Ich bitte dich! Aber das Schlimmste an dir, sind deine
ein
Wort
und zwei
Wort Zeilen,
das ist so was von vorgestern und damit meine ich nichts Gutes, du bist nicht retro, nicht vintage, nicht used, du hast keinen Bootcut, bist nicht skinny. Vielleicht bist du karotte und verschwindest selbst in etwas, das schließlich doch größer zu sein scheint. Deine Enjambements hetzen sich gegenseitig, verhaken sich, verklumpen – da wunderst du dich, dass du dich fett fühlst? Deine Wespentaille täuscht! Denn dein Dichter hat dich gemästet, hat seine ganzen blöden Worte in dich hineingestopft. Jetzt du bist schwarte! Ich sollte dich grillen.
Ich bin böse auf dich! Und besonders dein Stabreim regt mich auf! Wiese-wie-Wunder … wow! Einfallsreich! Dieses Stilmittel liegt dir nicht, sonst würdest du nicht so dumpf klingen. Nimm dir ein Beispiel an Poe, dem weary-way-worn-wanderer: das ist eine Alliteration. Du enttäuscht mich schon im Titel. Ein Haarschnitt, der so ungenau deinen knochigen Kopf bedeckt, wie vokuhila-oliba. Ich habe dich Gedicht genannt und erkenne dir jetzt diesen Titel ab, du bist kein Gedicht, du siehst nur so aus. Du bist ein Erguss irgendeiner Mode und ich zücke die Schere und zerschneide dich. Ich hab jetzt auch ein wenig Mitleid. Echt. Du kannst ja nichts dafür, dass du so hässlich bist. Und ich höre schon die Leute sagen: das kannst du dem kleinen Ding doch nicht antun. Aber ich kann. Und ich will. Und ich werden denen sagen: wenn ich es töte, kann es wiedergeboren werden. Als Zeitungsannonce oder Waschanleitungsetikett. Auf jeden Fall sinnvoller und klingender, als das was es jetzt ist. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich keine Lösung hätte: ich dichte dich um, aber ich warne dich gleich: mehr als ein Haiku wird aus dir nicht.
Ich sitze im Gras,
bin depressiv und merke:
blablabla blabla.
Naja. Steht dir ganz gut, finde ich.
Schön bist du immer noch nicht, aber nun weiß jeder, woran er mit dir ist.
Und ich fühle mich gut. Das ist das Wichtigste.
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Mein Kommentar:
Jonas, Jonas! -Was hat dieses arme Gedicht dir nur getan? Nichts daran magst du, du sprichst ihm sogar die Bezeichnung GEDICHT ab. Dabei waren dieser Text und sein Autor mal sowas von hip und cool! So was von Pop und irgendwie auch Hardcore. Die Freaks lasen diese Texte! Und du, Jonas, findest es nachkriegszeit!- Es sei dir gestattet. Komm du erstmal in unser Alter!!
Naja, es ist ja auch nicht viel dran.
Ein
vielleicht
mutig gemeinter
Zeilenumbruch macht
ja noch keine
lyrische Re
volution
-da magst du Recht haben. Und billige Alliterationen kann auch irgendwie Jeder, der das ABC beherrscht. Kunstlos, schlicht -ja, vielleicht profan kommt dieser Text daher. Aber: eine Wiedergeburt als Waschanleitung? -Das arme Ding. Da hat es all die impressionistischen Rüschen und expressionistischen Papphüte abgelegt und sich -überhaupt- ziemlich nackig gemacht und dann scheuchst du es so in die Ödnis! Ziemlich verschmäht steht es jetzt da, ohne Modelmasse, ohne trendiges Duftwasser, ohne schicke Dessous und du magst es nicht mit der Kneifzange anfassen!
Dabei kommt es doch auf die inneren Werte an, sagt man. Ist denn da was? Im Inneren unseres -zugegeben- äußerlich nicht sehr attraktiven Gedicht? Hm…schauen wir mal: Eine grüne Wiese reicht nicht für ein Gefühl….da müsstet ihr doch einig sein, oder? Und: irgendwie ist doch da irgendwas im Hintergrund, was mit duftigem Grün und blumigen Worten eh nicht zu fassen ist….der Autor merkt es doch selbst! Etwas, das sich von allein fortbewegt; etwas, was größer zu sein scheint als gekonnt-geführte-griffige-Gleichklänge und süße Synästhesie. Unser Autor weiß darum und weiß, er kriegt es nicht zu fassen -egal, welche Mittel er anwendet. Dieses Etwas löst alles auf -lyrische Mittel, Moden, Haltungen- sogar den Autor selbst!
Dieses Gedicht ist also selbst kritisch gegenüber den Möglichkeiten der Dichtung, vielleicht will es selbst gar nicht Gedicht sein? In der scheinbar dilletantischen Nutzung lyrischer Mittel drückt es seine Abneigung gegen die süßliche Tradition des “schönen” Gedichtes aus und thematisiert dessen Unfähigkeit, das “Größere” zu fassen. Das wäre doch etwas, was diesen Text eventuell über die Waschanleitung erhebt, oder?
Und: ist der Autor dieser Zeilen wirklich einfach nur depressiv? -Ich weiß nicht. Sicher ist da das Leiden an dem oben benannten Umstand und sicher auch an der Ungreifbarkeit von Wahrheiten generell. Aber das Wissen darum ist m.E. doch schon was! Aber man kann es so sehen. Es fehlt die heute fast allgegenwärtige Haltung, die jede Aussage, jeden Standpunkt mit sofortiger Wirkung wieder relativiert und in Zweifel zieht: es fehlt die IRONIE, das lässig zwinkernde Auge oder die hochgezogene Augenbraue eines Harald Schmidt oder eines Christian- Kracht-liken Dandy-Darstellers. -Hier wird einach nur eine Aussage getätigt und mehr nicht- wir sind es nicht mehr gewohnt, offenbar!
Keine 50 Jahre alt und schon ist dieser Ansatz heute kaum noch nachzuvollziehen. Die Moden, Modernen und Schulen sind über diese ehemals schnoddrig-respektvolle Haltung hinweggegangen und der Schick dieser Zeilen ist verwelkt. Dies hier schockiert niemanden mehr und dies hier inspiriert auch kaum einen mehr. Leider. Es ist wahr: dieser Text ist auch schon mainstream, nicht mal mehr vintage oder retro-schick.
Jonas war es schon ein wenig peinlich, als er erfuhr, für wessen Werk er gerade den Grill angeheizt hatte. Immerhin zählt der Autor von Mehr oder weniger zu den Säulenheiligen der meisten jungen Autoren und gilt allgemein als wesentlich cooler als z.B. Hesse oder Fried. Aber unser Proband hat ja Recht- im Text selbst und seiner Erscheinungsform ist davon nur noch wenig zu spüren.
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Unser Gedicht Mehr oder weniger stammt vom großen Rolf Dieter Brinkmann, der in den 60er und 70er Jahren sozusagen die Beat- und Hippieliteratur amerikanischer Ausprägung nach Deutschland brachte. Brinkmann entkleidete die Lyrik sowohl des politischen Pathos` als auch der lyrischen Attitüde. Alltag, Werbung, Pop und Banalität wurden zu seinen Themen. Brinkmann, der alles andere als ein Spaßmacher war, ließ seine Gedichte auf abgerissene Fetzen von Pin-up-Plakaten drucken, tourte monologisierend mit einem Aufnahmegerät des Westdeutschen Rundfunks durch Köln und zeterte, schmähte, polterte gegen alles und noch was. Der Kleinstadt-Junge aus Vechta im westlichen Niedersachsen fand seine Heimat in der rheinischen Metropole und provozierte auf Lesungen und Podiumsdiskussionen gerne einmal die Zuhörer und Mitdiskutierenden. Marcel Reich-Ranicki attackierte er einmal mit den Worten: “Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, dann würde ich Sie jetzt niederschießen.”
Der Dichter mit der Bürgerschreck-Attitüde, dessen vielleicht bekanntestes Buch der Roman: Keiner weiß mehr ist, verstarb 1975 bei einem Unfall in London.
Mehr oder weniger
ist dem Band:
Rolf Dieter Brinkmann
Standphotos
Gedichte 1962-1970
Rowohlt Verlag, 1980
ISBN 3498004611
entnommen
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Folge 6: mit Arnd Dünnebacke
Der Proband meiner heutigen Folge -Blindverkostung- ist Einer, der sagt, was er denkt. Und zur Blindverkostung meinte er spontan, so etwas sei für ihn ungefähr so reizvoll wie die Steuererklärung! Dennoch konnte ich ihn breitschlagen und bekam letztlich einen sehr schönen, persönlichen Beitrag. Vielen Dank dafür!
Arnd Dünnebacke, Jahrgang 1976, ist geboren und aufgewachsen im Sauerland. Dort kurzzeitig Bäcker und lebendes Drogenlabor. Bewegt sich seitdem als Faktotum durch die bundesrepublikanische Arbeitswelt und seit 2005 durch Hanau. Veröffentlichte in Anthologien, Literaturzeitschriften und 2012 den Gedichtband »Glück ist ein brennendes Flugzeug« im Acheron Verlag, Leipzig. Im September 2013 erscheint der Nachfolger »Gehobene Wohnlage«.
Am Schreiben von Gedichten reizt Arnd -nach eigener Aussage- die Möglichkeit, mit wenigen Worten einen Schlüssel zu einem ganzen Universum zu formen. Außerdem helfen sie ihm, sich zu erinnern, “auch da, wo jeder vernünftige Mensch lieber vergessen würde.”
Der Autor würde gerne einmal mit dem alten Bukowski, dem jungen Heine, Rimbaud und Beethoven eine Nacht durchzechen. “Und Remarque besorgte den Absacker – halb Rum, halb Port.”
Arnds erster Gedichtband: “Glück ist ein brennendes Flugzeug” erschien dieses Jahr im Acheron Verlag, Leipzig. Meine ausführliche Rezension dazu findet man hier: https://dingfest.wordpress.com/2013/06/09/rezension-gluck-ist-ein-brennendes-flugzeug-von-arnd-dunnebacke/
Weiterhin erschienen Texte von Arnd Dünnebacke in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, z.B. dem LaborBefund Nr. 5. Ein weiterer Band mit Lyrik sowie Romanmanuskripte befinden sich in der Warteschleife.
Ich schätze Arnd und seine Texte seit einiger Zeit sehr. Bei ihm geht es immer handfest zu. Sicher, es gibt nix Geblümtes und auch keinen Rosenduft bei ihm, dafür weiß man immer, woran man ist. Und: in Arnds scheinbar einfachen Texten und profanen Themen schlummert etwas und dieses Etwas ist genau, worauf es ankommt! Eine ganz kleine, leise Wahrheit.
Ich darf einen Leser zitieren, der kürzlich auf Umwegen auf Arnds Texte stieß, denn genauer kann man es nicht auf den Punkt bringen: “Mann, der sagt genau das, was ich auch denke und erlebe, aber ich könnte nicht einen Satz davon schreiben”
Er nehme es mir nicht übel- aber seit Arnd vor Kurzem Vater geworden ist, höre ich in seinen neuen Texten sogar eine Milde und Wärme, die ihn mir noch lieber macht.
Mehr von und über Arnd gibt es hier: http://duennebacke.jimdo.com/
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Hier der Text, den ich Arnd zum blindverkosten gab:
Und sein “Senf” dazu:
Keine Ahnung, wie mich Matthias drangekriegt hat hier mitzumachen, denn eigentlich finde ich es mehr als grausam mich über andere Texte auszulassen, oder, schlimmer noch, sie bis ins Kleinste zu sezieren, denn das übersteigt schlicht meine Fähigkeiten, bzw. meine Motivation. Also lassen wir das.
Ich hab grad ohnehin ganz andere Dinge im Kopf – Ende Mai bin ich zum ersten Mal Vater geworden. Und ja, das ist mal ein verdammtes Wunder! Wie dieses süße kleine Stinktier von einem Sohn da unten rauskam, mit Armen und Füßen und einem Kopf, der so klein war, dass er wie ein Granatapfel in meiner Hand lag! Und trotzdem war schon alles darin, was er zum Start in dieses Leben brauchte: Der Instinkt zu atmen und die Mutterbrust als das zu erkennen, was sie ist – Nahrung und Wärme und Geborgenheit.
Wisst ihr, jedes Wunder beginnt in einer einzigen Zelle, und das ist das eigentliche Mysterium: Weder eine Supernova noch der letzte Fanfarenstoß der absolutesten Symphonie sind der Höhepunkt, es ist der Anfang des Unbegreiflichen, der uns sprachlos macht. Und plötzlich kam mir der Kopf, den ich am Tag vor der Geburt noch auf meinen Schultern getragen hatte, so dermaßen winzig vor, dass ich beinahe lachen musste. Wenn es Gott geben sollte und wenn er einen Plan hat, hat er ihn mir jedenfalls noch nicht verraten – wie sonst hätte mich diese kolossale Erweiterung meines Universums so überraschen können? Und überhaupt, wer sagt eigentlich, dass Gott planmäßig vorgeht oder weiß was er tut?
Vielleicht ist Gott allmächtig,
vielleicht ist er so schlau wie wir?
Und fragt sich nachts im Sternenzelt:
»Was mach ich eigentlich hier?«
Vielleicht sind wir die Suchenden
die er sich einst ersann,
die eine Antwort zu ergründen,
die er allein nicht finden kann.
Vielleicht auch sitzt er neben mir
und schaut mir lachend zu
und spottet, und ich hör es nicht:
»Ach herrje, was weißt’n du?«
Na ja, wahrscheinlich nicht so besonders viel. Aber trotzdem genug um zu wissen, dass die härtesten Widerstände in einem selbst zu finden sind und die äußeren Hürden lediglich der Bequemlichkeit dienen, die inneren zu rechtfertigen, was in den meisten Fällen mit dem Argument der Vernunft einhergeht. Doch vernünftige Menschen fliegen weder zum Mond noch schreiben sie Bücher oder kommen morgens um halb vier besoffen zu der Einsicht, dass, wer im Glashaus sitzt, verdammt nochmal mit Steinen werfen sollte:
In Form gegossen
mit sechs Glas Wodka-O
denke ich an dich, um 3:34 Uhr,
wie ich gestern Nachmittag
ins Krankenhaus fuhr und
im Zimmer deiner Mutter
in diesen Glaskasten sah,
in dem du gähntest und schriest
und deine Windeln vollkacktest,
und ich deine Stirn küsste,
die so warm und weich war,
dass mein Herz für einen
Augenblick innehielt,
wie ein Schmetterling
der zur richtigen Blüte findet.
Aber, Herrgott, wie soll man den
Beginn von etwas begreifen,
was einem selbst beinah
unmöglich erscheint?
Und du hast Arme und Füße
und alles, diese Welt
und dich herauszufinden,
und ich hoffe inständig,
das die Unerschrockenheit
dich ebenso begleitet
wie mich, bei dem Versuch
zu verstehen um 3:45 Uhr.
Ich dachte, ich wüsste schon
einiges, doch jetzt, da du da bist,
weiß ich, ich wusste nichts.
Liebe ist ein Fass ohne Boden,
ist ein grenzloser Himmel,
die Unendlichkeit der Seele
beim Anblick deiner winzigen
Gliedmaßen, wo die Natur
sich einrichtet im Strampeln
einer weitergereichten Genetik –
dein Aussehen jedenfalls
hast du vom Opa deiner
Mutter geerbt.
Auch er lag in einem Glaskasten
als ich seine Stirn küsste,
aber die Stirn war kalt
und es war ein Abschiedskuss.
Das Leben und der Tod,
eingerahmt von Wänden aus Glas –
dazwischen liegt die Freiheit
zu tun und zu lassen was du willst
und glücklich zu werden.
So fürchte dich nie
einen Stein in die Hand
zu nehmen, der vielleicht
deine Grenzen sprengt.
Denn dafür
bist du hier.
Nun, ich glaube, das war so ziemlich aller Senf, den ich dazu geben kann. Das Leben ist halt, womit man am wenigsten rechnet – die Natur scheint planlos in ihrem Werden und Sein und Vergehen, sie ist und ist und ist, und wir stehen da mit unseren Tabellen und Kalkulationen und wissen nichts.
Wahrscheinlich stellen wir einfach nur die falschen Fragen,
obwohl wir die Antwort kennen:
Liebe.
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Mein Kommentar:
Ich danke Arnd für diese schöne Folge -Blindverkostung- . Dass literaturhistorische Detektivarbeit nicht des Dünnebackes Ding sein würde, war mir klar, es tut aber m.E. dem Vergnügen keinen Abbruch. Arnd interessieren große Namen nicht. Ihm geht es immer um den Text und diesem hier nähert er sich letztlich auf eine individuelle Weise dennoch an.
Schön, wie er hier seine Gedanken zur Zeile: Je kleiner der Kopf, desto größer das Wunder äußert. Im Ursprungstext kommt der unbekannte Autor über diesen Satz ja zur Ameise. Arnd dagegen denkt an seinen Sohn, an Kinder, deren kleine Köpfe und der ganze kleine Rest ebenfalls Wunder sind. Ich war ohnehin gespannt, wie Arnd mit einem Text umgehen würde, der den Begriff GOTT enthält. Die Schöpfung und die Zufriedenheit des Verantwortlichen damit ist ja ein interessantes Thema. Ein ganzes, komplexes Sein in etwas Winzigem unterzubringen wird hier also als größere Tat angesehen, als das Gleiche dort unterzubringen, wo viel Platz ist…… . Somit wäre die Katze, der Hund und letztlich der Mensch eine kleinere Leistung als die Ameise. Wir wissen es nicht, wir können nur mutmaßen….Arnd hat Recht.
Und: wir selber schätzen unsere Bewegungen, unsere Taten sicher als planvoller ein als die der Ameise.- Aber: ist dem wirklich so?
Kaum eine Spezies ist so strukturiert, sachlich und prägnant in ihrem Tun wie diese kleinen Tiere. Und wir?- Krebsen herum und tun so viel Unnützes, Überflüssiges und Vergebliches, arbeiten uns ab an diesen für uns viel zu großen Fragen, rechnen, kalkulieren am Universum herum und hinterm Gleich, unterm Strich steht so oft GOTT, mal mit und mal ohne ein Fragezeichen dahinter, dessen Form einem Fleischerhaken ähnelt.
Hindernisse sind äußerlich -bei Ameisen, ja! Wobei die Ameise auch gerne ihre 6583 Freunde holt und das Hindernis einfach wegträgt, ohen Murren, ohne Jammern. Und wir? – Hält uns oft nicht viel mehr Inneres auf? Angst, Stolz, Vorurteile? All das kennt die Ameise nicht und muss es deshalb nicht mühselig wegtragen…. .
Und wenn wir auf Widerstände stoßen -was tun wir so oft? -Wir sprengen, bomben, diskutieren, lügen sie weg. Die Ameise geht drum herum oder verreckt daran- einfach wie traurig! Einfach das Ende. Wessen Menschen Ende ist einfach? Wir sterben verbittert, verhermt, tragisch, traurig.
Dies ist kein Plädoyer, es den Ameisen gleichzutun. -Aber eines, mal darüber nachzudenken. Arnd hat erkannt, dass in seinem Sohn, der in seinen jetzigen Möglichkeiten, sich zu verteidigen, sich nur am Leben zu halten, weit weit unter der Ameise steht, ein Wunder steckt. Und er weist uns darauf hin, dass all die Fragen, auch die Vermutungen unseres heutigen Textes, letztlich nur mit Vielleicht beantwortet werden können.
Das kleine Gedicht “Ameise” stammt von einem der wichtigeren deutschen Lyriker der vergangenen Jahrzehnte .
Rainer Malkowski
Malkowski wurde 1939 in Berlin geboren und verstarb; 2003 in Brannenburg. Nach journalistischen Anfängen und Erfahrungen als Geschäftsführer einer Werbeagentur gelang es Malkowski gleich mit seinem ersten Gedichtband Was für ein Morgen 1975 sich als Lyriker zu etablieren. Seine Gedichte sind “einfach”, die Themen “klein”- nicht das große Weltgeschehen, sondern Natur und die Innenwelten spielen in seinen Texten die Hauptrolle. Aus diesen Gründen definiert man den Lyriker Malkowski zu einem Vertreter der NEUEN SUBJEKTIVITÄT, die in den mittleren und späten 70er Jahren der politischen und gesellschaftskritischen Lyrik mit ihrem “WIR” ein “ICH” entgegensetze.
Malkowskis Werk besteht fast ausschließlich aus Lyrik, Exkurse zum Roman oder anderen größeren Formen finden darin nicht statt. Der Autor war Stipendiat der Villa Massimo und erhielt zahlreiche Literaturpreise, der Bedeutendste davon sicher der Joseph-Breitenbach-Preis im Jahre 1999. Seit 2006 wird im Auftrag der Rainer Malkowski- Stiftung von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ein nach ihm benannter Literaturpreis verliehen.
Malkowski wuchs in Berlin-Tempelhof auf, besuchte dort die Askanische Oberschule und arbeitete zunächst in Berliner Zeitungsverlagen. Bis 1972 war Malkowski Geschäftsführer einer Werbeagentur, danach trat er als Lyriker an die Öffentlichkeit. Malkowski gelang es, sich bereits mit seinem ersten Gedichtband als Lyriker zu etablieren. Mit einem unverwechselbaren lakonischen Ton schuf er beeindruckende Gedichte, in denen die Natur eine Hauptrolle spielt und die eine große Affinität zur Neuen Subjektivität aufweisen. Ihm ging es vor allem ums Beobachten und das sich vergewissernde Bewusstsein des Beobachtens. Malkowski war Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Freien Akademie Mannheim. Seit 2006 wird im Auftrag der Rainer Malkowski Stiftung von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste der Rainer-Malkowski-Preis verliehen.
AMEISE ist dem Band:
Hunger und Durst-Gedichte-
Suhrkamp Verlag 1997
ISBN 9783518409060 entnommen.
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Auch unsere heutige Probandin:
Hanna Scotti ist wieder einmal höchst interessant und mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Humor bestens geeignet für die Blindverkostung.
“Die Welt ist meine Bühne, Improvisationen, Augenblicke in lebendigen Begegnungen sind meine Freiheit und meine Stärke.”
Ich stieß auf Hanna und ihre Texte in einem sozialen Netzwerk und war sofort von ihrem Esprit und ihrer Art begeistert. Nach gelegentlichem Austausch und dem Besuch ihrer Blogs kam ich aus dem Staunen über Hannas vielfältige Betätigungen nicht mehr heraus.
“Aus Afrika brachte ich den „groove“, aus Asien „die Stille“ des Zen mit und webe alles in meine künstlerischen Arbeiten ein. Meine Texte, Zeichnungen, Fotografien und mein Spiel als Clownin sind davon geprägt.”
Hanna schreibt wunderbare Lyrik und sehr kluge und spitzfindige Artikel; gemeinsam mit ihrer Freundin Wiebke Plett widmet sie sich ihrem Hauptthema: dem Älterwerden. Die beiden schreiben, fotografieren, malen und machen Filme- und das alles voller Lebensfreude und bewußt gegen den Zeitgeist, der das Alter und den Tod so gerne ausblenden möchte.
Über sich selbst sagt Hanna:
Wer bin ich ? Wenn ich das wüßte…..
Jedenfalls fühle ich mich wie eine alte Närrin und verlaufe mich ständig in den verstaubten Falten des Theatervorhangs –
unter meiner Fußmatte habe ich mich neulich gefunden.
Wer sich nicht bücken möchte, um dort nachzuschauen findet dieses Rumpelstilzchen bei google unter ihrem Namen :
Hanna Scotti
Hanna Scotti und Wiebke Plett sind Mitgliedinnen in:
Literaturkontor Bremen
der Autorinnenvereinigung e.V.
der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.
Deutsche Haikugesellschaft e.V.
und waren 2012 nominiert für den Lyrikpreis Hochstadter Stier
Ausführlichere Einblicke in Hannas vielschichtiges Tun erhält man hier:
http://hanna scotti.wordpress.com/
und
www.kunstvollaltern.de
Einzeltexte online und in Zeitschriften,
gedruckt liegt vor:
http://www.schicksal.komm
-Gedichte-
ISBN 9783943599077
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Hier der Text, den ich Hanna zum blindverkosten servierte:
Und, was ihre Geschmacksknospen dazu sagten:
Eine köstliche Fischsuppe hast du mir hier serviert :
1 Prise Salz aus Aesops Mühle
2 EL. Geriebenes aus der Mystik
1 Tube Mark aus den Töpfen Laotses
1 Spritzer Konfuzius
– Buddhas und Mohammeds Kleinigkeiten bleiben ein ewiges kulinarisches Geheimnis für den Gaumen,
ver(r)(f)ührt mit feinem jüdischen Humor
Das kann nur einer und ich setze hier alles auf eine Karte :
„Bertolt Brecht“.
Die Poesie dieses Textes liegt meines Erachtens einerseits in der schlichten literarischen Klarheit, andererseit an der Offenheit, die sich wie ein Kaleidoskop entfaltet. Immer neue Interpretationsmöglichkeiten bieten sich: Fische als Metapher für das „einfältige Volk“; in der Fremde (im All) ist alles besser ;Realitäten zurechtrücken – wie’s beliebt; die Begrenztheit aller lebenden Wesen löst sich in der Gleicheit auf; Misstrauen in die eigene Spezies; ich bekomme einen Gehirnknoten von all den Bildern und in dem Moment, in dem ich den Text loslasse, geschieht etwas Unglaubliches : ein Lachen taucht in mir auf, ein Lachen über diese irrwitzige, absurde, bunte, lebendige Welt, die sich großspurig in fremde Planeten ausdehnen will, sie vielleicht sogar erobern möchte? Das alles finde ich in dieser Geschichte, dass kann nur ein weiser Mensch geschrieben haben. Das Wort „ Kosmonaut“ verweist auf Ort und Zeit : Seine zeitweilige Nähe zum Sozialismus und zum Wettlauf im All, der etwa 1950 begann. Auch seine Affinität zu fernöstlichen Philosophien ist hier gut zu beobachen. Stutzig macht mich die Zahl 58 in dem Zusammenhang. Das steht dort sicher nicht ohne (politischen ? ) Grund, aber ich kenne ihn nicht.
Vorsichtshalber erwähne ich noch Böll, Grass und Benn. Böll mit seinen „Ansichten eines Clowns“ hätte die literarische Feingliedrigkeit, würde aber nie auf einen „Kosmonauten“ verweisen. Günther Grass ist einfach kein Autor filigraner Poesie. Gotfried Benn war Expressionist und liebäugelte mit Nietzsche, das ist kein Nährboden für diese Geschichte. Beim Überarbeiten machte meine Liebste mich noch auf Kunert, Biermann und Walser aufmerksam, aber keinen würde ich als Autor dieses „feinen Geschichtchens“ sehen. Und die Frauen ?? Ja, die Frauen hatten keine Zeit für Poesie. Sie befreiten sich gerade schmerzvoll aus Kirche und Küche und zeugten Kinder (möglichst weiblich) mit den Autonomen vermutlich mit allen gleichzeitig. Oder sie wurden die besseren Männer. Der Zickenkieg war eben allgegenwärtig und ließ einfach keinen inneren Raum für solche Kleinode, wie diese Geschichte. Neuere, jüngere Autoren/innen habe ich nicht in Betracht gezogen, weil das Thema später zwar sporadisch erschien, aber an politischer und sozialer Brisanz verlor und nur noch als Spektakel in den Medien auftauchte.
Da meine Gedächtnisstrukturen sich meistens im „jetzt“ bewegen, bitte ich um Nachsicht, wenn meine Gedanken sachlich nicht stimmen. Ich habe mich bereits damit ausgesöhnt , kein Monopol auf Wahrheiten zu haben. Aber diese „blinde“ Beschäftigung mit einem dreh – und angellosen Text ohne Anker, hat mich zur Fischerin in meinen autobiographischen Gewässern gemacht.
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Mein Kommentar:
Ja, eine hübsche Fischsuppe ist das hier. Ein ausgewogen komponiertes Gericht, mit ausreichend metaphorischem Salz und vollmundigem Hintersinn abgeschmeckt. Was ist das für ein Text, den Hanna Scotti hier mutig für uns blindverkostet? -Mit Fischgerichten muss man ja generell etwas vorsichtig sein!
Wir haben hier Tiere, denen durchaus menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden: Sprechen, Denken, die Sehnsucht nach etwas Höherem und IRREN! Diese Kiementräger wollen hoch hinaus und landen -na wo? Im Verderben! Dies ist tatsächlich eine Art moderne Fabel. Dass sie nicht von Lafontaine, dem großen französischen Fabeldichter stammen kann, dürfte allein durch die Verwendung des Begriffes Kosmonaut klar sein. Den irgendwie ostdeutschen Bezug schmeckt Hanna ja auch gleich heraus. Kann man hier vielleicht auch gleich eine zeitliche Eingrenzung versuchen? Hanna legt sich nicht so recht fest, definiert zwar 1950 als Beginn des Wettlaufes ins All und setzt somit einen sehr richtigen ersten Punkt; sie assoziiert auch gleich Autoren wie Brecht, Grass, Böll und Benn, deren wichtigstes Schaffen sich ganz grob über die 50er bis in die 60er Jahre erstreckt und liegt letztendlich damit gar nicht so verkehrt! Früher kann dieser hübsche kleine Text mit Widerhaken also kaum entstanden sein. Aber vielleicht später? Spätestens ab der Mondlandung der Amerikaner 1969 verlor der Kosmonaut als Wort, Symbol und Beruf wohl deutlich an Bedeutung. Könnte dies ein Endpunkt sein? -Genug der Rätselei: der Text stammt von 1968.
Böll vermutete Hanna – Ja, das Hintersinnige und der Hang zu einer moralischen Komponente ist da. -Ist aber nicht Böll!
Grass schließt Hanna selber aus. Zu leise, zu feingliedrig für den wortgewaltigen Erzähler, schlußfolgert sie -wobei Grass erster Gedichtband einen sehr schönen Text über Küken im Ei enthält, der durchaus “fabel”haften Charakter hat. -Dennoch: nicht Grass.
Auch Benn kommt nicht in Frage.
Aber Brecht? -Hanna haut hier ja gleich zu Beginn ein Rezept heraus, dass durchaus aus dem Kochbuch des Augsburgers stammen könnte:
1 Prise Aesop
2 EL. Mystik
ein wenig Laotse und Konfuzius
und letztlich alles gut verrühren mit einem schönen Schuß hintersinnigem Humor, das könnte doch nach Brecht schmecken!
Auch die Doppelbödigkeit des Textes, dieses beinahe Fabel-in-der-Fabel, wäre dem Geiste Brechts angemessen, denn neben der Übertragung des Strebens nach etwas anderem als dem immer gleichen Tümpel auf die Fische gibt es hier ja auch noch den staunenden Angler, der dem Fisch nichts anderes ist als großer Fisch und der bedauernswerterweise einziger Zeuge eines Wunders wird, das ihm keiner glauben wird.
Dennoch: -Nicht Brecht!
Aber Hannas mutiger Schuß aus der Hüfte geht gar nicht sooooo weit daneben!
Brecht, nach dem Krieg im Osten Deutschlands angesiedelt, teilt seinen Wohnort dieser Tage mit unserer Verfasserin. Und dort war er die prägendste literarische Kraft auch für die, die nicht so regimetreu waren. Sein Einfluß ist hier sicher mehr als nur zu vermuten. Er dürfte als gesetzt angenommen werden, denn unsere heutige Autorin wuchs in Ost-Berlin auf und begann das Schreiben und Veröffentlichen just in den Jahren, in denen der olle Brecht sich dort niederließ.
Ich war etwas verwundert, dass Hanna in ihrer Besprechung nur männliche Autoren in Betracht zog und fragte deshalb nach. Daraufhin ging Hanna noch einmal in sich und ergänzte folgende Antwort, die ich nicht unterschlagen möchte:
Eine schöne Spielerei, dieses Kreuz – und Querdenken. Matthias hat nichts verraten, aber ich ahne : es ist doch eine Frau. Warum schloß ich sie so konsequent aus? Der Knick in meiner Argumentation ist mir in der Nacht klargeworden. So wird noch ein weiteres Stück Zeitgeschichte aus dieser Fabel ans Licht getragen.
Mein Focus in der Interpretation landete ganz intuitiv bei den Aktivitäten der Frauen im Westen. Unsere literarischen Themen waren Simone de Beauvoir, Sartre, die Straßenkämpfe in Paris und Berlin, die Emanzipation. Und all das endete abrupt an der Mauer. Oft stand ich davor, ratlos, ohne Vorstellungen von diesem „fremden Land“ auf der anderen Seite. Wie lebten die Frauen dort? Ich wußte nichts, alles war fremd und bedrohlich und es gab kein Ende. So wandte ich mich wieder meinen eigenen Interesse zu. Das ist eine Lücke, die ich emotional und intellektuell nicht schließen kann, wie sich hier ganz deutlich zeigt. Ich habe es nicht bemerkt. Leider war ich nicht politisch genug, mich diesem „Fremden“ zu nähern. Ich kannte sie einfach nicht, diese literarischen Schwestern. Sie waren fremd und lebten in einem Staat, der mir fremder war, als die Frauen in Afrika. Christa Wolf : Ihre Kassandra, gelesen von ihr selbst, geht unter die Haut. Sarah Kirsch, was gäbe ich heute darum, diesen Frauen in „unserer gemeinsamen Zeit“ begegnet zu sein. -Es ist ein Wunder, da schickt mir ein junger Mann eine kleine Parabel, die mich mir selbst näher bringt. Danke Matthias.
Ich habe zu danken, Hanna!!
Aber nun genug des Rätselspiels: Unser heutiger Text -Fische- stammt von:
Christa Reinig kam 1926 als uneheliche Tochter einer alleinerziehenden Putzfrau zur Welt und wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Ost-Berlin auf. Im Zweiten Weltkrieg war Reinig zunächst Fabrikarbeiterin, dann Trümmerfrau und später Floristin. An der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin erwarb sie in den frühen 50er Jahren ihr Abitur und studierte im Anschluß Kunstgeschichte und Archäologie. 1957 bis 1964 war sie wissenschaftliche Assistentin am Märkischen Museum.
Das Schreiben begann Reinig bereits in 40er Jahren. Sie arbeitete an der Ostberliner Satire- Zeitschrift Eulenspiegel mit und konnte einige literarische Beiträge veröffentlichen. 1951 wurde jedoch wegen ihrer unangepaßten Haltung ein Publikationsverbot gegen sie verhängt, so dass ihre Werke von dort an nur noch in westdeutschen Verlagen erscheinen konnten. Von 1949 bis 1960 konnte sie sich als Herausgeberin des hektografierten Heftchens Ewiwa Future einer west-Berliner Autorengruppe betätigen. 1964, nach dem Tod der Mutter, kehrte Christa Reinig von der Reise anlässlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises nicht wieder in die DDR zurück und lebte seitdem in München.
Christa Reinigs Werk enthält balladenhafte Gedichte, Liebeslyrik, Prosa und Hörspiele. In den 1970er Jahren bekannte sie sich öffentlich zu ihrer lesbischen Orientierung und von da an nahm die Beschäftigung mit dem Feminismus breiten Raum in ihrem Werk ein. Reinigs Texte sind häufig von Satire und schwarzem Humor gekennzeichnet. Die Autorin war Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland und in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.
Christa Reinig, die an Morbus Bechterew erkrankte, lebte seit 2008 bis zu ihrem Tod in einem Münchner Pflegeheim.
Neben dem Bremer Literaturpreis erhielt Reinig für ihr Werk auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Deutschen Kritikerpreis und war außerdem Stipendiatin der Villa Massimo sowie Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.
-Fische-
erschien erstmals 1968
in dem Band:
Orion trat aus dem Haus
-Neue Sternbilder-
Eremiten-Presse
Mit dieser schönen Folge verabschiede ich mich erst einmal für eine Woche! Auch bei mir steht Urlaub an, aber am übernächsten Sonntag gibt es bereits die sechste Folge der -Blindverkostung-. Bis dahin müsst ihr halt die alten Episoden nochmal lesen oder euch die Bücher der Verkoster und Verkosteten besorgen…..! Ich freue mich auf die Auszeit und wünsche alles Angemessene! Bis bald!
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Auf den heutigen Teilnehmer meiner Reihe bin ich besonders stolz, wagt er sich doch nicht oft unter Leute und nimmt nur bedingt an dem Teil, was man Literaturbetrieb nennt. Ich stieß auf Paul Fehm durch seinen Blog, der auf Betreiben einiger Freunde des Autors entstanden ist. Seine Texte packten mich sofort. Da es kein Bild von ihm im Netz zu finden gibt und er auch seinen Blog nur mit historischen Porträts anderer Persönlichkeiten schmückt, konnte ich nicht so leicht eruieren, ob es sich bei deren Verfasser um einen jungen oder schon reiferen Menschen handelt, welche Art Eindruck er hinterlässt und, ob dieser zum Klang der Texte passt. Seine Literatur ist wuchtig, kraftvoll und zeitlos, fernab von allen Moden und Trends. Das verwirrte mich anfangs etwas. Mittlerweile konnte ich in unserer Korrespondenz ein wenig herausfinden. Paul ist 29 Jahre alt, sieht aber -nach eigener Auskunft- besser aus! Er studiert in Heidelberg und veröffentlicht ausschließlich auf seinem Blog. – Aber ich könnte niemals richtig darstellen, wie besonders der heutige Proband ist, deshalb lasse ich ihn lieber selbst die Vorstellung übernehmen.
Ich studiere seit ein paar Jahren in Heidelberg (davor Berlin), ohne zum Ende zu kommen und studiere alles wild durcheinander. Ich arbeite in verschiedenen Küchen, um meine kleine Wohnung am Waldrand zu finanzieren. Das funktioniert auch meistens. Ich mag den Fluss und die Ruhe beim Angeln. Ansonsten: eine Handvoll Menschen, Blue Mountain Kaffee, Dornfelder, Jazz, Elektro, die Bücher. Nachts bin ich manchmal in den Gassen unterwegs, aber meistens meide ich die Menschen.
Dass ich jetzt einen Blog habe, ist nicht meine Schuld, sondern die von ein paar Freunden, die unbedingt was mit meinen Texten machen wollten. Sie nennen sich »Es lebe der König« und spielen mit meinen Sachen. Ich finde das ganz gut, verstehe aber ihren Enthusiasmus nicht. Jedenfalls sagten sie, ein Blog wäre gut und ich habe mich überreden lassen.
Aber letztlich schreibe ich nicht, um etwas oder jemanden zu erreichen, und auch nicht, weil ich möchte – mir ist es mehr ein natürlicher Reflex. Ich glaube, mit meiner Literatur ist es wie mit dem Regen: Er trifft jene, die draußen im Freien sind, ohnehin, ich werde also nicht gegen Häuser, Schirme und überdachte Bushaltestellen anreden.
Pauls Blog ist hier zu finden:
Hier der Text,
den ich Paul Fehm zum blindverkosten gab:
Und das Ergebnis seiner Beschäftigung damit:
Draußen…die…Düne.
Das Gedicht spricht von der Liebe, es spricht genauer vom Ausbleiben der Geliebten. Vielleicht habe ich sie verstoßen, vielleicht ist sie auch einfach gegangen. Ich kenne dieses Gefühl jedenfalls, auch wenn mein Fenster zum Wald geht, nicht zum Meer. Diese Erfahrung von Verlassensein wird vom Gedicht allerdings zugleich ins Allgemeine gewendet: Ich ringe um meine Einheit.
Draußen…die…Düne.
Das Gedicht beginnt mit dem Blick nach »Draußen« und endet mit dem Blick ins Innere, ins »Herz«. Gekennzeichnet sind die Verse durch eine Sprache, die Beobachtung erzeugt: die Beobachtungen des lyrischen Ichs treiben es dazu, diese in Worte zu fassen, und das Sprechen wirkt zugleich produktiv an der Wahrnehmung mit. Mimesis und Konstruktion halten sich die Waage.
Immer stehe ich anfangs am Fenster und sieht nach draußen gegen eine »Düne«: der Blick trifft also sogleich auf einen Widerstand, auf aufgehäuften Sand, auf die Düne, die den Blick über das bis zum Horizont reichende Meer versperrt. Ich stelle mir vor, wie mühsam es wäre, die Düne, mit dem nassen Sand unter den Füßen, im Regen hochzulaufen. Das poetische Ich fühle mich eingesperrt.
Aber wie um wie vieles leichter ist es doch, solange die Düne, der Wald, das Meer vor dem Fenster wogt. Wenn es aber durch die Scheiben bricht, sie zersplittert, den Raum anfüllt und ich wie in einem Aquarium gefangen bin, dann braucht es das Talent zu Kiemen, wenn man nicht in der Einsamkeit ertrinken will. Wo bleibt M.?
Das Vorherrschen von Substantiven und elliptischen Sätzen, die das Verb aussparen, bewirkt dabei eine nur scheinbare Objektitvität und Verlässlichkeit in der Beschreibung. So wie Ich mich hier in einer Ansammlung von Betrachtungen verliere und zugleich konstituiere, kommt diese Dialektik auch in der Kombination von »Düne« und dem bestimmten Artikel »die« zum Vorschein.
Der bestimmte Artikel »die« behauptet eine Einheit der Düne, genauer gesagt: ihre Einheit, die doch selbst nur aus Abermillionen Sandkörnern besteht. Diese Sandkörner finden ihre graphische Reflexion in den Auslassungspunkten, die zugleich auch die vergehende Zeit darstellen und fühlbar machen wie in einer Sanduhr. Die Punkte, wie Bilder des Atomismus, trennen die Redeinheiten und verbinden sie zugleich. Synthese und Analyse bewirken die Spannung des Gedichtes.
Einsam…das Haus,
eintönig,
ans Fenster…der Regen.
War ich im ersten Vers nur im Standpunkt des Beobachters im Inneren des Hauses präsent, so erscheine ich nun in der subjektiven Befindlichkeit »Einsam«. Das Einsame bedeutet eine Sammlung in das Eine, Konzentration, Reduktion. »Eintönig«: Das Gedicht trägt ein Ton, später wird die Rede vom »Ton« durch »grau« mochmals aufgegriffen.
Der Ort des Sprechers wird nun genauer lokalisiert, er befindet sich drinnen, hinter dem »Fenster«, vom »Regen« durch die Fensterscheibe getrennt und zugleich ihm nahe. Regen besteht aus Abermillionen Tropfen, aber auch hier wird die Einheit behauptet: so wie das Ich seine Integrität, die es zu verlieren droht, redend verteidigt. Die Statik der Atmosphäre wird allein durch das »Regen« des Ichs dynamisiert.
Wenn es zu wenig regnet, dehydriert mein Gehirn, die Gedanken werden dröge. Oder, wie wenn ich vertrocknet aus dem Fenster schaue, wo das Bellen der Hunde und Heulen der Wölfe zu mir dringt, wie ist er zu erreichen, der Regen, der mir die Kehle netzen könnte, aber unendlich weit von mir und unerreichbar hinter der Scheibe auf sie trommelt; – ein Marsch, dem ich nicht zu folgen in der Lage bin.
Hinter mir…tiktak…eine Uhr,
meine Stirn
gegen…die…Scheibe!
Als bedürfte ich in meiner Angst Einengung, werde ich mir nun dem bewusst, was mir im Rücken liegt und akustisch mich erreicht. Die direkte sprachliche Abbildung des Geräusches »tiktak« erscheint als hilflose Geste, Vergehendes sprachlich zu fixieren und zu begreifen. Der Versuch des präzisen Ausgriffs auf Sprache bleibt gegenüber der Wirklichkeit ohnmächtig.
Die Front indes, die »Stirn«, verschiebt sich: das poetische Ich drückt sie in von Ellipsen durchsetzter Geste gegen die »Scheibe«. Ostentativ tritt hier die Trennung von Drinnen und Draußen hervor. Zugleich aber reflektiert sich diese Trennung bereits im Bild des Schädels, denn die »Stirn« ist die Scheidewand von Gehirn und Welt. Das übrigens eine im Zuge der Evolutionstheorie vieldiskutierte Frage: die nach der Abschottung der Nerven von der Welt und deren Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit.
An dieser Stelle, nach dem Ausrufezeichen, befindet sich die Peripetie des Gedichtes. Bis hierin herrschte die Kraft des poetischen Ichs, die Trennung zu überwinden, die Geliebte nahen zu sehen, die Zeit des Ausbleibens zu überwinden. Gewonnen wurde diese Kraft aus der Erinnerung an das Vereinigte der Vergangenheit.
Nichts.
Null…Komma…Null.
Jetzt aber kippt die Stimmung: »Nichts.« Die Bestimmung »Null … Komma … Null.« gibt in ihrer naturwissenschaftlichen Nomenklatur die Hilflosigkeit des poetischen Ichs zu erkennen. Während das »Nichts« noch metaphysische Anklänge hat, versucht die exakte Bestimmung Gewalt über die Welt zu erlangen: durch Präzision.
Der Nullpunkt des Meeresspiegels. Im Übrigen ist in »Nichts« noch immer etwas präsent, denn »nichts« ist privativ verkürzend für »nicht etwas«. Erst der folgender Vers bringt den tatsächlichen Einschnitt in der ursprünglichen Bedeutung von »Komma«, links und rechts steht die »Null«, vor dem poetischen Ich und hinter ihm.
Alles
vorbei!…Alles…dahin!
Alles
zerronnen, verloren,
gewesen!
Genauso absolut wie »Null…Komma…Null.« tritt nun das Gegenteil »Alles« hervor. Das absolute Nichts wird beschworen. Aber auch diese Geste gibt sich als losgelöst, als ab-solut, von der Wirklichkeit zu erkennen. Der direkte Umschlag der Beschwörung von »Alles« und der sich anschließenden Verneinung »zerronnen, verloren, gewesen« ist in seiner Unvermittelheit zu scharf, um nicht einer komischen Komponente zu entbehren.
Ich will sagen, ja, ja, ich habe mit ihr geschlafen, mit ihrer zusammengeschrumpften Gestalt. Ihre unendlich dürren Glieder bogen sich vor mir, bäumten sich auf, ihre eingefallenen Brüste verhöhnten meinen Hunger und ihre rissigen Lippen schnitten die meinen im Kuss. Ihr Mund schmeckte nach Asche, die Haut als hätte einer Salz auf dieses Feld gestreut, aus dem mir nichts erwuchs in dieser Nacht, in der ich schrie, aber nicht liebte und schwitzte, aber immer und bis heute noch, durstig blieb. Verzeihen? Nein, So kommen die Jahre, ich sah eine Kuh verenden im Traum und mein Hafen liegt verlassen im Land, wo Zitronen blühen und für mich kein Zug mehr im Gleis steht. Alles ist eitel.
Vielmehr stellt sich die Frage nach dem »Zerrinnen« des Inhalts der Sanduhr, nach der »verlorenen« Zeit, nach dem Wesen des »Gewesenen«. Das poetische Ich hat seine Einheit verloren, wobei erst die Abwesenheit der Geliebten die Frage nach der Einheit so radikal zutage treten lässt. Übrigens damit auch die Frage nach der physischen Einheit des Ich und das Problem des Todes. In diesem Kontext ist auf Ernst Haeckels Monismus hinzuweisen, der wie andere Weltanschauungen um 1900, wie überhaupt die Lebensphilosophie, sich mit diesen Fragen befasste.
Grau…der Himmel…grau
die See
und…grau…das
Herz.
Dieser Zweifel lässt alles »eintönig« »grau« werden. Das Drinnen, das »Herz« überlagert nun die Wahrnehmung vollkommen: der »Himmel«, die »See«, beides sieht das poetische Ich nicht vor sich, werden wie das »Herz« grau. Das Grauen, die Angst, dringt ins Innerste vor, paradoxerweise aber kommen so tristes Draußen und graues Drinnen zusammen: die Enge, die die Angst in dem poetischen Ich hervorruft, gibt dem Ich, das sich zu verlieren droht, letzten Zusammenhalt.
Das Sprechen in dieser Form des Gedichtes – die Setzung der Strophen, die zwischen Einheit und Vereinzelung wechselt, der Versbruch, das Metrum, die Auslassungszeichen – zeigt eine moderne Erfahrung. Mich erinnert das an Ernst Machs These vom »unrettbaren Ich«, das in Wahrnehmungspartikel zerfällt. Entstanden ist das Gedicht wohl im Umkreis der Jahrhundertwende, wo solche Erfahrungen und Fragen kulminieren.
Mich berührt die Erfahrung des auf sich zurückgeworfenen Ichs, die Konfrontation mit der Enge des Raumes, der verrinnenden Zeit, das leere Warten, die Zuspitzung des Grauens darin, und die Einfärbung der ganzen Welt mit diesem Gefühl. Es bleibt aber am Ende des Gedichtes etwas Hoffnungsvolles zurück: das »Herz« wird sich beim ersten Anblick der Geliebten auf dem Scheitel der Düne wieder in seiner Zersplitterung vergessen und wieder als Einheit fühlen.
Ja, es war grau und ist es auch immer noch und grau noch im Schwarzlicht, ich habe es angesehen, damals auf der Toilette, wo sie nicht wollen, dass einer sich totspritzt. Da habe ich auf sie gewartet und sie kam und brachte den Rausch, aber quälte sich trocken die Kehle hinunter und heute noch brennt es. Warum willst du es wissen? Ich weiß es nicht, ich glaube, ich musste es erfahren, dieses Jahr, wo der Wind meinen Weizen zerbließ, die Sonne die Erde zerspringen ließ und der Boden so trocken war, dass ich nicht einmal deine Spur finden konnte, als du gegangen warst; – wohin, ach, dass ich das alleine nicht weiß.
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Mein Kommentar:
Ich danke Paul Fehm sehr herzlich für diese intensive und sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem auf den ersten Blick unscheinbaren Text.
Recht modern sieht das Ganze aus, mit seinen sehr freien Zeilenumbrüchen, kurzen Versen und der eigenwilligen Interpunktion. Inhaltlich passiert nicht viel. Jemand steht am Fenster und sieht hinaus. Es regent, eine Uhr tickt- ein Urbild des Wartens und des tatenlosen Verrinnens der Zeit. Wir haben ein ICH, wir haben eine Düne als Konstante und sonst: NICHTS.
Resignation und Vergeblichkeit klingen aus den gerade einmal 43 Worten, von denen viele auch noch mehrfach wiederholt werden. Kein Sprachfeuerwerk, keine Metaphernkaskaden prasseln hier. Der Regen ist Regen, die Uhr Uhr und letztlich ist alles grau und ein Gleiches. Hier ist vieles heruntergefahren auf seine Grundfunktionen, meint man. Aber Paul bemerkt richtig: am Ende ist noch was. Ein HERZ. Zwar auch ein graues, aber ein HERZ. Immerhin. Das Geschehen dieser minimalen Zeilen liegt ganz offenbar vor der festgehaltenen Szene und ein Danach steht vage im Raum. Paul hat es für sich und uns sehr schön mit Inhalt und Assoziationen gefüllt.
Mit seiner am Rande geäußerten Vermutung, das Gedicht sei wohl um die Jahrhundertwende entstanden, hat er vielleicht den ein oder anderen verblüfft. So modern im Satz? So wenig schwülstig? Hier soll also ein Zeitgenosse Fontanes, Rilkes und Stefan Georges am Werk sein? –
Dennoch: genauer kann man es fast nicht treffen. 1898 erschien dieses Gedicht erstmals. -Chapeau!
Kunst= Natur-X. Es war eine Zeit, in der man noch Theorien zur Kunst entwickelte, auf der Suche nach totaler Veränderung der herrschenden Normen. Die Wissenschaft erfasste nach und nach eine dunkle Ecke der Welt nach der Anderen. So wurden Formeln und Regeln auch auf die Kunst angewendet.
Kunst= Natur-X. Kunst ist also das Gleiche wie Natur, abzüglich einer gewissen Komponente. Naturalismus ist denn auch der Begriff, der für diese Strömung dieser Epoche gefunden wurde. Kunst solle der Natur möglichst nah kommen, wenig subjektiv daherkommen. Mit diesen Gedanken einher ging die Lösung von der strengen Form. Man bevorzugte die Abbildung von Realität, bis hinein in den Sprachgestus. Und da auch um 1900 die Menschen nicht in Reimen sprachen und dachten, löste sich die althergebrachte Form langsam auf.
Und nun lösen wir es auf. Von wem stammt dieser kleine Text, den Paul Fehm so treffsicher verorten und kenntnisreich besprechen konnte?
Er stammt vom führenden literarischen Vordenker dieser Zeit: Arno Holz.
Arno Holz (* 26. April 1863 in Rastenburg, Ostpreußen; † 26. Oktober 1929 in Berlin) zählt zu den heute praktisch vergessenen Autoren. Dabei war er vielleicht der wichtigste deutsche Dichter und Dramatiker des Naturalismus und Impressionismus. Sein Hauptwerk, der Gedichtband Phantasus von 1898, dem dieser Text entnommen ist, gilt als Meilenstein in der modernen Poesie und stellt einen frühen Versuch dar, die klassischen Versformen zugunsten des freien Verses zu überwinden.
Arno Holz wurde in Rastenburg als Sohn eines Apothekers auf, betätigte sich zunächst als Journalist, dann aber freier Schriftsteller. Sein Gedichtband Buch der Zeit wurde 1885 mit dem Schiller-Preis ausgezeichnet.
Ab 1888 begann die enge berufliche Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf, mit dem Holz sogar zusammenlebte. In Gemeinschaftsarbeit entwickelten sie die Theorie eines „konsequenten Naturalismus“, der auf möglichst genaue Milieuschilderung bestand und auch die Einbeziehung umgangssprachlicher Elemente abzielte. Zugleich sollte diese neue Literatur ohne Subjektivität auskommen und möglichst wissenschaftlich sein. So kamen sie zu der Formel „Kunst = Natur − x“. Kunst sollte so weit wie möglich der Natur entsprechen und Aufgabe des Künstlers sei es, das x aus der Formel möglichst klein zu halten. Diesen theoretischen Ansatz wandten sie praktisch in den Werken Papa Hamlet und Die Familie Selicke an, die unter dem gemeinsamen Pseudonym Bjarne P. Holmsen erschienen.
1898 veröffentlichte Holz seinen Gedichtband Phantasus, sein lyrisches Hauptwerk. Die erste Ausgabe erschien in Form zweier Heftchen a 50 Gedichten. Die Gedichte, fiktiv einem heruntergekommenen Poeten im Wedding zugeschrieben, spiegeln das Milieu wider, in dem Holz seinerzeit in Berliner lebte. Holz hat seinen Phantasus hat Holz fast sein ganzes weiteres Leben über immer wieder bearbeitet und erweitert. 1916 erschien der Band in einer neuen Fassung mit 336 Seiten. Die letzte vom Autor selbst publizierte Fassung von 1924/25 ist 1345 Seiten stark. Formal ist der Band dadurch interessant, dass die einzelnen Verszeilen zentriert sind, weshalb dieser Stil auch Mittelachsenlyrik genannt wird. Zeilenumbruch und Interpunktion folgen hier nicht mehr metrischen oder grammatikalischen Regeln, sondern werden rein subjektiv, im Sinne des Gefühls eingesetzt.
Ich freue mich, erneut eine interessante und hochtalentierte Autorin für diesen Feldversuch gewonnen zu haben.
Anke Laufers Texte sind eine ganz eigene Kategorie. Keiner davon läßt mich kalt. Da steht Spannung neben Humor, feine Beobachtungsgabe neben handfesten Dialogen. Anke Laufer liebt ihre Figuren und gestaltet sie treffsicher und facettenreich. Dennoch kennt sie kein unnötiges Mitleid mit ihnen und führt sie in die fürchterlichsten Situationen. Und das mit einem trickreichen und sicherem Handwerk, dass es nicht wundert, dass die Autorin bereits mehrere Auszeichnungen für ihr Schreiben erhalten hat.
In dieser Folge nähert sich Anke auf die bisher vielleicht überraschendste und kreativste Weise ihrem Blindverkostungstext. Viel Vergnügen!
Zur Autorin:
Anke Laufer studierte Ethnologie und Politik in Freiburg im Breisgau. Sie promovierte im Jahr 2000, war anschließend im Verlagswesen und Multi-Media-Publishing beschäftigt und begann ihre Dozentinnentätigkeit. Seit 2006 veröffentlicht sie literarische Texte, für die sie bereits Stipendien und mehrere Auszeichnungen erhielt, darunter den Deutschen Kurzkrimipreis 2009 und den Würth-Literaturpreis 2011.
Veröffentlichungen: (u.a.)
Die Irritation. 21 Stories. worthandel : verlag, Dresden, 2012.
Weitere Infos über Ankes Bücher, Vorträge und sonstige Aktivitäten findet man unter:
Hier der Text, den ich Anke zum blindverkosten ausgesucht habe:
Und Anke Laufers „Senf“ dazu:
Zufallstext
Ja, schon gut. Hör auf.
Da schreibt also einer seine „Morgenseiten“. Zugegeben, er macht es nicht auf diese egozentrische und weichgespülte Art.
Wie? Ihr wisst gar nicht, was „Morgenseiten“ sind? Kein Drama, wirklich nicht. Also: Die Idee stammt wohl ursprünglich von Natalie Goldberg, die solch (überaus erfolgreiche und alberne) Bücher verfasst hat wie „Der Weg des Schreibens. Durch Schreiben zu sich selbst finden.“ Amazon setzt erläuternd hinzu: Esoterik (womit Amazon das Produkt treffend kennzeichnet). Natalie Goldberg und die wachsende Zahl ihre Jünger, darunter nicht wenige SchreibwerkstättenleiterInnen glauben nämlich allen ernstes, dass man schreiben lernt, in dem man sich zuallererst und beinahe ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Um eins klarzustellen: Ich finde, wenn man überhaupt in den eigenen Geschichten vorkommen sollte, dann höchstens wie Hitchcock in seinen Filmen, in denen er in Zwei-Sekunden-Sequenzen an der Kamera vorbeihuscht, als Hundespaziergänger, zum Beispiel. Ein irritierter Blick zur Kamera hin war dabei das höchste der Gefühle. Nur wenn man ihn wirklich abpasst, kann man ihn entdecken, wenn nicht, ist das dann auch okay. Es gibt da ja diese nervenzerreißend spannende Geschichte, die gar nichts mit ihm zu tun hat. Scheinbar.
Aber ich schweife ab. Also: Dieser Autor schreibt seine Morgenseiten, fleißig und irgendwie ziellos, allerdings hat er beschlossen, dass diese sich nicht mit ihm selbst, sondern der Welt da draußen beschäftigen sollen. Um warm zu werden listet er Tatsachen, Halbwahrheiten und Behauptungen auf, die ihm auf Zickzackkurs durch den Kopf schießen wie Flipperautomatenkugeln.(In der Flipperautomatenzeit dürfte der Text wohl auch entstanden sein, schätze ich, aber das nur nebenbei)
Wie auch immer: Ein halbausgeschlafener Autor versichert sich der Welt, in dem er sie protokolliert, ein wenig hilflos scheint mir der Versuch und daher irgendwie rührend, möglich, dass ich das Gefühl ganz gut kenne. Wahrscheinlich ist es noch viel zu früh am Tag für ihn. Er muss seine Sinne erst zusammenraffen. Also tastet und tappt er herum, die Haare ungekämmt, in der Mundhöhle noch der Geschmack der schlechten Träume der vergangenen Nacht. Aufgrund dieser ziemlich deutlichen Vision lehne ich mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte: Der Autor dieser Zeilen ist ein Mann.
Und der Kerl hat ein Problem. Eindeutig. Wieso ich das weiß? Ich sag jetzt einfach mal nur: Erfahrung.
Mir kann er da wirklich nichts vormachen. Ich hab ihn (aus gutem Grund) nicht überlesen, diesen einen Satz, auch wenn er noch so beiläufig daherkommt: „Schriftsteller schreiben Romane“ behauptet unser Schreiberling. „Ja, klar“, rufe ich ihm über den Schreibtisch hinweg zu, „Oder eben auch nicht!“ und dann schnauze ich: „ Verdammt, geh endlich duschen, mach dir einen ordentlichen Kaffee, reiß dich zusammen. Vielleicht fällt dir dann etwas ein, aus dem eine gute Geschichte werden könnte, muss ja kein Roman sein.“
Zwischendurch klaubt er zu meiner großen Erleichterung etwas auf, das ausnahmsweise nicht nach seinen gebrauchten Socken riecht, sondern nach einer Story: Zwei Anhänger der koreanischen Religionsgemeinde Genri Undo Kenkyudai sind am Dienstag bei einer Gebetsübung unter dem Wasserfall in Kuzumi (Japan) an Unterkühlung gestorben. „Na also“, sage ich, „geht doch!“, aber da macht er schon weiter wie gehabt und schreibt: Wir kennen keine Langeweile, hebt das zerknitterte Gesicht und grinst mir blödsinnig hoffnungsfroh entgegen. Jetzt werde ich wirklich sauer. „Hast du eine Ahnung!“ Aber dann tut er mir auch schon leid und ich fühle mich berufen, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen, wobei ich schnell merke, dass mir die Sache schon wieder entgleitet. „Hör mal, keiner sagt mehr ´Primaner` und überhaupt: Filme reißen nicht mehr, wenn man von deinem Filmriss absieht, den du wohl dem Besäufnis gestern zu verdanken hast. Aber glaub mir, der positive Einfluss von Alkohol und Drogen auf die literarische Schaffenskraft wird eindeutig überschätzt.“
Er ist jetzt natürlich ein bisschen eingeschnappt, aber ich schiebe ihm meinen Zettelkasten mit den alten Zeitungsausschnitten über den gemeinsamen Schreibtisch. „Wenn du da nichts findest, ist dir nicht zu helfen, echt. Ich mach jetzt Kaffee. Aber das nächste Mal bist du dran.“
Er fängt an zu kramen und während ich den Kaffee aufbrühe, liest er laut vor:
Quilca, La Punta und el Chorro heißen die Weiler im lang gezogenen Küsternort, in denen kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Enrique Gutierrez, der Bürgermeister, berichtete von zwei Kindern, die zum Zeitpunkt des Bebens und der Flutwelle allein zu Hause waren. Die Leichen der fünf und sieben Jahre alten Geschwister fand man später in den Trümmern. Sie lagen sich gegenseitig in den Armen.
Elsa Saile aus Beuren war die Botin. Sie kannte jeden Stein und jedes Haus mitsamt Bewohnern. Sie schleppte die Gebrauchsgegenstände der alten bäuerlich-handwerklichen Welt von einem Ort zum anderen – wo sie eben gebraucht wurden.
Der Vater der Unabhängigkeitserklärung habe zumindest ein Kind mit der 28 Jahre jüngeren schwarzen Sklavin Sally Hemings gehabt, erklärte die Thomas Jefferson Memorial Foundation.
Christine W. ist alleinerziehend. Sie lebt mit zwei Kindern sparsam und zufrieden in drei Wohnwagen. „Sonst müsste ich zum Amt“, sagt sie
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Mein Kommentar:
Na, so richtig festlegen mag sie sich nicht, die Anke Laufer. Und sie hat auch keine falsche Ehrfurcht vor diesem Text. Sie sieht den unbekannten Autoren einfach als Kollegen, der -genau wie wir anderen Schreiber auch- auf der Suche ist nach einem Sujet für einen Text, denn: Schriftsteller schreiben Romane. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit reiht sich leise ein in all die anderen einfachen Wahrheiten. Sahne macht dick, Hunde bellen, Ferngespräche kosten Geld. -Ein wenig Mitleid hört man aus ihrem fiktiven Zwiegespräch mit dem gesuchten Autoren heraus, aber auch Verständnis!
Anke Laufer kennt dieses Ringen sicher auch, das Notieren und Sammeln von Meldungen, Berichten, Anekdoten, die irgendwo einen fast unsichtbaren Keim einer Geschichte in sich bergen und sie legt am Schluss ihrer Betrachtungen dem bedauernswerten Kollegen und uns sogar ein paar ihrer Zettel aus dem magischen Kästchen offen.
Sie vermutet einen männlichen Autoren (in unserer Korrespondenz für die heutige Folge spricht sie sogar von einem KERL) und sie hat Recht damit. Woran erkennt sie das? Bauchgefühl vermutlich. Es handelt sich sogar um einen ziemlichen KERL. Aber dazu später.
Irgendwann in der Flipperautomatenzeit verortet sie den Text und auf Nachfrage meint sie damit schon eine Zeit, die einige Jahrzehnte zurückliegt. Und es gibt ja noch ein paar andere Indizien: Brecht ist schon tod und die Politiker gehen hier nach BONN, aha! Da kann man also sagen: der Text ist nicht älter als 1956 und nicht jünger als 1999.
Eine ungefähre Verortung. Wie lange man sich schon bewußt ist, das Rauchen Lungenkrebs verursacht und ob die Polizeistunde de facto noch existiert, müsste man glatt recherchieren. Ansonsten gibt der Text mit seinen vielen Allgemeinplätzen nicht mehr her. Nein?
Mal zurück zu den einfachen Wahrheiten: Züge haben Verspätung, ja! Ampeln stehen auf Rot, ja! Der Kaffee wird kalt, ja verdammt- und immer viel zu schnell! Aber: gehen Politiker wirklich aus Überzeugung nach Bonn (oder heute: nach Berlin)? Sind wir wirklich Optimisten und kennen keine Langeweile, wie es hier zwischen anderen Allgemeinheiten behauptet wird? Das ist so eine Sache. Eher fragliche Dinge werden uns hier sehr beiläufig zum Abnicken untergeschoben.
UND: da ist er tatsächlich: dieser Fetzen einer Geschichte, den auch Anke Laufer mit geschultem Auge entdeckt. Zwei Anhänger der koreanischen Religionsgemeinde Genri Undo Kenkyudai sind am Dienstag bei einer Gebetsübung unter dem Wasserfall in Kuzumi (Japan) an Unterkühlung gestorben. Aha! Und, wenn man genau hinsieht, ist da noch mehr. Auch warum der Amokläufer genau aufgeben musste und wie das ablief, wäre interessant. Und was geschieht mit der Mondsonde? Was plante denn der unbewaffnete Amerikaner und war das Fehlen einer Waffe dafür hilfreich oder fatal?
Dieser vermutlich männliche Autor streut hier doch mehr Krumen aus, als anfangs vermutet. Sie sind schwer erkennbar unter den üppig ausgebreiteten Nichtigkeiten, die einer näheren Betrachtung gar nicht würdig zu sein scheinen. Hier tastet jemand im Dunklen und findet tatsächlich das Ein oder Andere. Die Geschichten selbst- die müssten allerdings nich geschrieben werden. Aber vielleicht klappt es ja nach Ankes Kaffee und Ermunterung, wer weiß!
Sehr amüsant und klug -Ankes Auseinandersetzung mit dem Text. Auch so kann man es also angehen. Sicher die bisher ungewöhnlichste Folge der -Blindverkostung-. Meinen herzlichen Dank dafür!
Aber jetzt für die, denen die Detektivarbeit nicht zu kurz kommen soll:
Lösen wir es auf: der Text stammt von einem Autor, der Ende der sechziger Jahre eine Art Popstar unter den Literaten war, dessen Lyrikbände immense Auflagen hatten und der auch mit seinen kurzen Prosatexten erfolgreich war. An keinem Boxring und auf keiner Schickeria-Party fehlte er. 1969 erschien dieser Text in seinem Buch mit dem wunderbaren Titel: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde, das eine ganze Reihe derartiger Kurztexte enthält. Der Autor heißt Wolf Wondratschek, kein Unbekannter also und einer, der noch unter uns weilt und in den letzten Jahren durchaus wieder eine gewisse Beachtung findet, die in den 90er Jahren etwas nachgelassen hatte.
1943 geboren wuchs Wondratschek in Karlsruhe auf. Von 1964 bis 1965 war er Redakteur der Literaturzeitschift Text & Kritik. Seit 1967 lebt er als freier Schriftsteller in München. Wondratschek verweigert sich seit seinen literarischen Anfängen weitgehend dem Literaturbetrieb, gibt kaum Interviews und tritt selten auf. Zuletzt veröffentlichte er überwiegend Prosa.
Der hier vorgestellte Text ist folgendem Buch entnommen:
Wolf Wondratschek: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde
Reihe Hanser 15, 1969
Hanser Verlag, München
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Ich freue mich, eine vielseitige und außergewöhnliche Kollegin für die heutige Folge gewonnen zu haben. Thyra Thorns Ideenreichtum, ihr Humor und ihr sehr eigenständiger Zugang zu Kunst & Literatur waren mir schon oft Inspiration und Bereicherung.
Thyra Thorns künstlerisches Schaffen illustriert den Begriff multimedial m.E. in Reinform.
Sie schreibt und veröffentlicht seit 2008, als bildende Künstlerin stellt sie ihre Gemälde seit den 80er Jahren aus (zuletzt im Januar 2013 im GRAZ, Regensburg) und seit 2011 macht sie Videos, die bereits international auf Festivals gezeigt wurden, darunter das 7. ALFA-Multimediawettbewerb Karierte Maiglöckchen 2012 in Portugal http://creative.arte.tv/en/community/checkered-lilies-valley
und das Britische Filmfestival 2013 in Chesterfield http://creative.arte.tv/de/community/emotions-fall
Thyra Thorn wurde in Rendsburg/Schleswig Holstein geboren und wuchs in Regensburg/Bayern auf, wo sie seit ihrem Studium an der FU Berlin auch wieder lebt. Als Ethnologin hält sie Vorträge in verschiedenen kulturellen Einrichtungen, demnächst z.B. in der staatlichen Bibliothek zu St. Petersburg. Einblick in Thyra Thorns vielseitiges Tun gewinnt man auf ihrem Blog: http://www.anthropos4u.blogspot.com
Veröffentlichungen:
“Der Schwimmer” Geschichte in der(ebook) Anthologie “Hoffnung im Untergang”, C.von Kamp Verlag
Drei Gedichte in der Anthologie: “Die Welt im Wasserglas”, WortKuss Verlag 2011
Erzählung “Fette Liebe” im Worthandel Verlag Dresden
Hier nun der Blindverkostungs- Text, den ich für Thyra ausgesucht habe:
Und:
Was Thyra dazu einfiel:
Eine Gedichtinterpretation – und das mir! Das war in der Schule mein absoluter Tiefpunkt in Deutsch und hat mich tief verschreckt. Auch heute schreibe ich Gedichte nur, um meine eigene Sprache zu diziplinieren, oder wenn ich vom Vorträgeschreiben zu Prosatexten wechsele. Aber gut , ich versuchs:
Das Gedicht (5 Strophen à vier Zeilen) wirkt auf den ersten Blick recht klassisch. Der Rythmus/pro Zeile ist dreihebig (nennt man das so, ich weiß es nicht mehr genau?), mit weichen und harten Endreimen . Für einen Klassiker ist es aber nicht stringend genug durchkomponiert. In allen Strophen, außer in der zweiten!! – warum da nicht?, gibt eines Zeile mit vier Hebungen. Diese Zeilen stören den Fluß erheblich. Offensichtlich ist das meistens beabsichtig, z.B. in der Wiederholung in Zeile 4 (Kisten- Kasten) und in der letzen Zeile (Jugend-Jugend). In der Zeile 7 und in Zeile 16 wirken die Adjektive “alte” und “tiefe” hingegen überflüssig. Warum dann die Symmetrie stören?
Auf den allerersten Blick erschien mir das Gedicht als eine Mischung aus Heinrich Heine und Georg Kreisler: “Gemma Tauben vergiftn im Park….”. Aber es ist weder von dem einen noch von dem anderen. Beide können ja sehr boshaft werden, aber Heinrich Heine würde eher auf einen Endreim verzichten, als den Rhythmus so zu stören. Kreisler hätte die dritte Strophe schreiben können, aber insgesamt kann ich mir das Gedicht als Liedtext nicht vorstellen (eben auch wegen des Rhythmusses). Der Sinn des Gedichtes scheint ziemlich klar -eben der Mord an der Tante aus niederen Beweggründen – vom Tantenmörder ausgeführt und vermutlich eher von einem Mann geschrieben. Ich schätze mal, Frauen lassen die Täter in solchen Fällen doch eher zu Gift greifen – die Qualen des Vergifteten wären ja auch sehr schön zu beschreiben .
Die letzten zwei Zeilen des Gedichtes : “Ihr aber, o Richter, ihr trachtet.. .meiner blühenden Jugend- Jugend nach.” könnten ein Hinweis auf den Zeitraum sein, in dem das Gedicht geschrieben wurde. Nietzsche träumt schon 1873 von “einem Reich der Jugend”, Thomas Mann schreibt 1911 mit dem “Tod in Venedig” seine Ode an die Jugend und dieser Jugendkult mündet mit dem “Wandervogel” ja dann in die Hitlerjugend. (Von Stefan George ist das Gedicht aber auch nicht, der hätte viel mehr mit den Wörtern gespielt.) Das Gedicht ist auch nicht “elegant” genug um, um im zeitlichen Umkreis der “Decadence” Literatur entstanden zu sein -allein die leichtfertige Verwendung verschiedenster Tempi – von der 2. Vergangenheit bis zur Gegenwart – spricht dagegen. Aber natürlich – letztendlich rechtfertigt der Mörder seine Tat mit dem Vorrecht der Jugend (“ich war jung und brauchte Geld”) und beschuldigt die (alten) Richter des Neides und Ressentiments. Also ich glaube, dass das Gedicht irgenwann zwischen den zwei Weltkriegen geschrieben wurde.
Und Thyra verfasste außerdem noch eine spontane Replik auf den Text, die mir ebenfalls sehr gefällt:
Mein Kommentar: Ganz richtig. Der Inhalt des Gedichts ist klar, eher einfach. Ziemlich klassisch gereimt und ein wenig bös`. Jedoch nicht spitzfedrig genug für einen Heinrich Heine. Thyras Ausschlussverfahren ist ohnehin eine taugliche Methode. Für die Décadence ist der Text nicht lyrisch und wortmalerisch genug, für einen Stefan George z.B. viel zu profan. Überhaupt: nicht sehr elegant, der Tantenmörder. Mit der Verortung einige Jahrzehnte, ja ein Jahrhundert zurückzuspringen, ist ebenfalls eine gute Idee. Die Jugend als Kult, ob jetzt wie bei Nietzsche oder Thomas Mann, ist eine Strömung, die in diese Zeit gut passt. Hier natürlich ohne das Mystische wie im George-Kreis und ohne völkische Komponente wie einige Jahre später bei den Nazis. Mit -zwischen den Weltkriegen- liegt Thyra etwas daneben, aber nicht sehr! Der Text stammt von 1902 und ist tatsächlich (Thyra merkte es an) eher eine Art “Gebrauchslyrik”, denn trotz des beim Lesen etwas holprigen Rhythmusses war der Tantenmörder ursprünglich als Couplet zum Singen gedacht und wurde auch in dieser Form vorgetragen. Thyras Assoziation von Georg Kreisler (dem großen Verfasser bitterböser Chansons) ist also gar nicht schlecht! Überhaupt war der Autor des Stückes einer, der zweigleisig fuhr. Als Theaterdichter war er extrem erfolgreich und hat auch zwei, drei Stücke hinterlassen, die damals skandalös und mutig waren und dazu auch heute noch gespielt werden. Andererseits war der Dichter dem “Profanen” und der Auftragsarbeit nicht abgeneigt, begann er doch seine Karriere als Werbetexter:
“Was dem Einen fehlt, das findet / In dem Andern sich bereit; / Wo sich Mann und Weib verbindet / Keimen Glück und Seligkeit // Alles Wohl beruht auf Paarung; / Wie dem Leben Poesie / Fehle Maggi’s Suppen-Nahrung / Maggi’s Speise-Würze nie!”
Auch diese flotten Verse stammen vom Autor unseres heutigen Texte.
Frank Wedekind, geboren am 24. Juli 1864 in Hannover; gestorben am 9. März 1918 in München, war einer der führenden Bühnenautoren seiner Zeit. Lulu, Die Büchse der Pandora, Frühlings Erwachen sind Stücke, die bis heute im Gedächtnis geblieben sind.Doch Wedekind war stets auch auf der Seite des anspruchsvoll-humoristischen zu finden, schrieb z.T. unter mehreren Pseudonymen für die Satire-Zeitschrift Simpliccissimus und trug seine eigenen Texte zur Gitarre im Münchener Kabarett Die 11 Scharfrichter vor. Eines seiner Couplets brachte ihm sogar eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung ein. aus Genau dieser Zeit stammt unser heutiger Text, den Thyra unter die Lupe nahm und dem sie zudem noch eine weiblich-moderne Variante hinzufügte.
Vielen Dank dafür!
Hier noch eine Art Selbstporträt der vielseitig begabten Probandin:
Am kommenden Sonntag dann die 3. Folge der -Blindverkostung-. Gleiches Prinzip-ganz anderes Ergebnis! Die Blindverkosterin der nächsten Woche erhielt für ihre Werke mehrere Stipendien und ist Trägerin verschiedener Literaturpreise, u.a. des Deutschen Kurzkrimipreises 2009 und des Würth-Literaturpreises 2011. Sie beschäftigte sich mit dem ersten Prosatext dieser kleinen Reihe.
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FOLGE 1
Mit Freude eröffne ich heute die neue Kategorie Blindverkostung.
Und das direkt mit einem Highlight:
Als erster Autor hat sich Jost Renner der Aufgabe gestellt, einen ihm völlig unbekannten Text zu bearbeiten, dessen Entstehungszeit und Verfasser ich ihm erst am Ende dieses Artikels verrate.
Jost Renner wurde 1960 geboren und lebt in Berlin. Sein erlernter Beruf ist der des Buchhändlers, somit sind wir Kollegen, was mich umso mehr erfreut. Sein Blog: http://liebesenden.twoday.net wird vom deutschen Literaturarchiv in Marbach archiviert und erfreut sich großer Beliebtheit.
In diesem Jahr erschien sein Gedichtband LiebesEnden im Mirabilis Verlag, ISBN 978-3-9814925-2-1.
Hier nun der Text, den ich ihm für die erste Folge Blindverkostung ausgesucht habe:
Und das Ergebnis seiner Beschäftigung damit:
Was wäre die Literatur, die Lyrik ohne den Traum ? Schon in der Genesis begegnen wir den Träumen des Pharao und den Deutungen des Joseph. Träume haben dort eine andere Funktion als in späteren Zeiten – sie warnen oder sind zumindest ein kleiner Einblick in zukünftiges Geschehen, ihr Wesen aber hat sich nicht verändert : sie kommen in Bildern, Symbolen daher, die einer Interpretation bedürfen, sie entwickeln dadurch – zumindest in der Erinnerung an sie – eine nicht zu vernachlässigende Vagheit, etwas Ambivalentes, Verschwimmendes.
Weitaus anarchischer kommt dann Shakespeare daher. Sein “Mittsommernachtstraum” ist ein Gebilde, das sich auf einer Ebene zwischen Traum und einer märchenhaften Wirklichkeit bewegt, und weder Figuren noch Zuschauer können sicher sein, ob das Geschehen nichts anderes gewesen ist als ein Traum. Erlebt jedenfalls haben alle Beteiligten es als höchst reales Geschehen.
Für die Romantik ist der Traum als Motiv vermutlich unverzichtbar, lassen sich doch Sehnsüchte, insbesondere unerfüllbare, damit trefflich beschreiben, lassen sich ideale Welten der Harmonie, der Liebe schaffen, damit durch das Erwachen auch möglicherweise deren Gegenteil : das Gefangensein im unerbittlichen Hier und Jetzt, das unendliche und Unerfüllbare der Sehnsucht.
Dennoch ist der Traum keineswegs immer angenehm : es gibt deren düstere Spielart, Schreckensszenarien apokalyptischen Ausmaßes, die zunächst in der späten Romantik auftauchen, dann aber vor allem im Expressionismus Platz greifen. Der expressionistische Dichter Georg Heym z.B. notierte seine Träume akribisch in einem Tagebuch, und sie waren selten angenehm. 1910 beschrieb er einen Traum, in dem er beinahe ertrunken wäre, ein Schicksal, das ihn 1912, diesmal ohne guten Ausgang, ereilte.
Etwa in diesem Zeitraum wurden Träume und deren Deutung auch gesellschaftlich relevant – Freud veröffentlichte 1899 seine Traumdeutung, später folgt C.G. Jung, der sich auch in seiner Sichtweise scharf von Freud, seinem Lehrer, abgrenzt.
Der mir vorliegende Text ist unzweifelhaft ein Gedicht. Endreime, Versmaß und Strophenform qualifizieren ihn als solches. Den Autor weiß ich nicht zu nennen, dem Inhalt nach entstammt er allerdings nicht der Romantik, wiewohl – etwa mit dem Wort “Märchenbuch” – Anklänge durchaus vorhanden sind. Eher weisen “Anderssein”, “Vielfachheiten” auf das zwanzigste Jahrhundert hin, da sich die Frage der “Identität” in der Romantik selten stellte. Unzweifelhaft ist der Traum in diesem Gedicht dennoch eine Art Freiraum, eine Befreiung aus dem Alltäglichen, möglicherweise einer gesellschaftlichen Rollenzuweisung. Diese mag durch die Arbeitswelt oder bürgerliche Konventionen erfolgt sein. Auch dies verbindet – ein wenig – mit der Romantik, denkt man daran, daß der “Taugenichts” oder auch der Protagonist aus E.T.A. Hoffmanns “Der goldene Topf” allenfalls in einer Märchenwelt, nicht aber in der bürgerlichen Gesellschaft glücklich werden können. “Traum II” erzählt von Freiheit, allerdings mit zweifelhaftem Ausgang : sie mag Schreiben ermöglichen, aber genauso gut auch wieder verwehen. Vielleicht ist der Traum kein Traum, sondern allein ein Bild des schöpferischen Prozesses, der nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein muß. Eine gewisse Vagheit, etwas zwischen Schlaf und Wachen scheint mir gegeben. Ich neige dazu, den Text einer Autorin, nicht einem Mann zuzuordnen, kann diese allerdings ohne gezielte Suche nicht identifizieren, nur strikt behaupten, Else Lasker-Schüler sei es nicht. Die Weiblichkeit der Verfasserin scheint mir gerade dadurch stimmig, daß deren Alltagsrolle durch die bürgerliche Gesellschaft weitgehend festgelegt, bestimmt wurde. Gleiches aber mag auch für einen Mann gelten, dessen Broterwerb – wie bei Kafka – das Dasein in organisierten Strukturen notwendig machte. Ich halte den Text für recht gelungen, denoch störe ich mich ein wenig an der Abfolge kurzer Hauptsätze in der ersten Strophe, die dem harmonischen Versmaß, so scheint es mir, entgegen arbeiten.
Kommentar: “Was wäre die Literatur, die Lyrik ohne den Traum?” -Ein sehr schöner Einstieg, den Jost hier gewählt hat. Allgemeingültig und für diesen Text natürlich passend, da es sich, laut Betitelung, um einen Traum -den Zweiten von vermutlich mehreren- handelt. Josts Verortung des Textes ins 20. Jahrhundert und seine Tendenz, mit den Assoziationen von Freud und Jung, eher zum frühen 20. Jahrhundert, treffen tatsächlich ins Schwarze. Das Gedicht entstammt dem Expressionismus. Und auch mit der Vermutung, der Verfasser sei weiblich, aber nicht die wohl größte und bekannteste expressionistische Dichterin: Else Lasker-Schüler, hat er Recht. Jost spürt in seiner Interpretation sehr sicher die Verbindung zu romantischen Motiven auf, die vielen expressionistischen Dichterinnen näher scheinen als ihren männlichen Kollegen. Nah, sehr nah kommt er mit seiner Beschäftigung dem tatsächlichen Ursprung des Textes. Ein gelungener Einstieg in diese neue Reihe, für den ich Jost noch einmal herzlichst danken möchte.
Und nun zur Auflösung:
Josts Text stammt von Emmy Hennings (* 17. Januar 1885 in Flensburg; † 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano). Hennings war als Schriftstellerin und Kabarettistin tätig und bildete, zusammen mit ihrem späteren Ehemann Hugo Ball eine Art Schnittstelle zwischen Schwabinger Boheme, Dada und dem Kreis um den Monte Verita. Emmy Hennings war nicht nur Autorin, sondern trat auch auf den Kleinkunst-Bühnen Münchens und im berühmten Cabarét Voltaire auf, wo sie tanzte und rezitierte. Sie verband eine lebenslange Freundschaft mit Hermann Hesse, dessen erster Biograph ihr Ehemann Hugo wurde. Sie zählt zu den zahlreichen fast vergessenen Autorinnen ihrer Zeit, die inmitten der damaligen Strömungen standen und oft außerordentliche und typische Texte ihrer Epoche verfassten, leider ohne damit in den Kanon der Literaturgeschichte einzugehen.
Ihr Gedicht ist folgender Anthologie entnommen:
In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod –Lyrik expressionistischer Lyrikerinnen
Herausgeber: Hartmut Vollmer, Igel Verlag, Hamburg 2011
ISBN 9783868155266
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