blindverkostung

BeFunky_blindverkostung

In dieser Kategorie meines Blogs findet etwas ganz Besonderes statt:
Autoren, Lyriker und Leute aus dem Kulturbetrieb besprechen fremde Texte, ohne den Verfasser zu kennen.

Die Regeln:

Ich suche für jeden teilnehmenden Schreiberling ein Gedicht oder einen kurzen Prosatext aus meiner oft etwas obskuren Bibliothek heraus und übersende ihm diesen ohne Autorenangabe. Es herrscht strengstes Suchmaschinenverbot!!
Der teilnehmende Autor bespricht nun spontan und subjektiv den von mir ausgewählten Text, äußert seine Assoziationen und versucht, die Herkunft einzukreisen. Erst im Nachhinein verrate ich den tatsächlichen Verfasser.

Ein sicher aufschlußreiches und interessantes Spiel, das hoffentlich einiges über den individuellen Zugang zu Literatur verrät.

Bisher haben mir:
Jost Renner
Thyra Thorn
Anke Laufer
Paul Fehm
Hanna Scotti
Arnd Dünnebacke
und Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri

die Ehre gegeben.

HEUTE NUN:

Die 10.Folge -Blindverkostung-
ein kleines Jubiläum, das eine Spezial-Folge rechtfertigt, denke ich!

XXL Anders als bei den 9 vorangegangenen Folgen stellt sich nicht EIN Autor einem Text, dessen Verfasser er nicht kennt, sondern gleich DREI!

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Mutig und motiviert erklärten sich
Stefanie Jerz, Hanna Scotti
& Sebastian Schmidt
bereit, sich auf das Experiment einzulassen und so präsentierte ich Ihnen unten stehendes Gedicht, ohne irgendwelche weiteren Informationen. Meine Fragen beantworteten sie im für diese Zwecke hervorragend  geeigneten Service: edupad.ch, der einen direkten Austausch und spannende Interaktion ermöglicht. So präsentiere ich nun mit Freude unsere 10. Folge und wünsche viel Spaß mit der literarischen Schnitzeljagd meiner drei Probanden!

Hier der Text, den ich den Dreien vorlegte:

rückwärts

Herzlich willkommen zu unserem kleinen Lyrik-Experiment.
Vielleicht wollt ihr euch kurz selbst vorstellen? Na?- Ladies first?:
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Stefanie Jerz:
Ich fasse mich jetzt einfach als Lady auf und mache den Anfang.
Ich schreibe,  seit ich denken kann, am liebsten Lyrik, auch Kurzgeschichten, einen Roman erst, wenn meine Kinder groß sind und ich steinalt bin. Literarische Kleinstbrötchen verdiene ich mit dem Schreiben von Bühnenstücken für ein von meiner Freundin und mir gegründetes Biografietheaterensemble, deren jüngstes Mitglied nächstes Jahr siebzig wird. Bin seit Jahren Beirätin und Pressefrau in der Autorinnenvereinigung e.V., wobei ich meine Funktionen dort gerade für mehr Schreibzeit etwas zurückschraube, und Mitglied im 42erAutoren-Verein bin ich auch. Mehr zu meinen Theaterstücken zu finden unter www.theatergold.de
Dankeschön an Matthias für dieses spannende Projekt!
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Als zweite Lady und erprobte Veteranin von Folge 5 meiner kleinen Reihe begrüße ich sehr herzlich Hanna Scotti:
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Hanna Scotti:
Neben Familie, Studium und Beruf arbeitete ich dreißig Jahre im Bereich Schauspiel, Regie und Impro- Theater mit Erwachsenen, Kindern, Menschen mit Suchterkrankungen sowie seelischen und körperlichen Handicaps. Seit zehn Jahren bin ich ausgebildete Geriatric – Clownin
und begleite, jedoch nur noch gelegentlich, alte und sterbende Menschen.
Jetzt widme ich mich dem Schreiben von Gedichten, Fachartikeln und Kurzgeschichten. Auch Photoarbeiten, Videoclips und Tonaufnahmen sind inzwischen dazugekommen. Mein Leben als alte Frau wendet sich ganz langsam nach innen und das ist eine große Freude für mich, werde ich dadurch zunehmend unabhängiger von dem Tempo und dem Geschrei dieser Welt. Das Leben ist wie die Bühne, auf der ich immer gespielt habe, jetzt bin ich die Souffleuse. In Bremen habe ich mein zuhause gefunden.
Ich freue mich sehr über die Einladung von dir, lieber Matthias, ich werde euch hier aus meinem tiefsten Innern gerne was flüstern
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Und, ebenfalls mit gezückter Feder, steht der Lektor und Lyrik-Aficionado Sebastian Schmidt bereit. Auch er sei gegrüßt:
Sebastian Schmidt:
Auch von mir ganz liebe Grüße an alle Teilnehmer und Leser. Ich mag Lyrik und gute Texte. Das Schreiben mag ich natürlich ebenfalls, auch wenn ich mich nie wirklich als Autor gesehen habe. Das war und ist bei mir eher eine Mischung aus gern lesen und Gedichte schreiben. – Dann kam die Frage auf: was tun nach der Germanistik? Gelandet bin ich im Meer der vielen Buchstaben als freiberuflicher Lektor (www.lektorat-textbasis.de). Über Lyrik, Sprache und Text blogge ich ein wenig auf textbasis.wordpress.com. Heute bei der Blindverkostung dabei sein zu dürfen, ist eine Ehre für mich!
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hand_feder_04Frage 1:
So, ihr Lieben, wenn Ihr diesen kleinen Text betrachtet, könnt ihr sicher schon etwas zur literarischen Form sagen. Gibt es Regelmäßigkeiten oder Besonderheiten, die euch auffallen, und könnt ihr vielleicht allein aus der Form heraus schon etwas über das Alter oder das Umfeld dieses Textes sagen??
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Stefanie Jerz:
zwanzigstes Jahrhundert würde ich sagen…wobei ich mich nicht entscheiden kann, ob da die 20er oder 70er Jahre…die freie Form lässt mich eher zu den 70ern hin tendieren…wie bei einem lange nachgereiften, augenzwinkernden Benn…bin sehr gespannt auf den Verfasser oder eher die Verfasserin? des Textes… . In meinem Kopf entsteht gerade eine Namenschimäre aus Brecht/Kaleko/Kirsch…wobei alle drei zu bekannt sind, um hier blind verkostet zu werden…spannend…
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Sebastian Schmidt:
Herzlichen Dank für die Einladung zur Blindverkostung, Matthias, über  die ich mich sehr freue. Was haben wir hier? Zuerst einmal einen Versblock, strophisch nicht unterteilt, das Versende auffallend oft um das „ü“ herumgestrickt, was einen eigenwilligen Ton hervorruft. Silben- und Hebungszahl variieren an den Schlüsselstellen ein wenig, jedoch formt Daktylus den Grundtenor und erzeugt auch über die Enjambements hinweg eine eigenwillige, ruhig-nachdenkliche Stimmung, die nicht ganz frei ist von Pathos („Doch es geschieht nichts“); die jedoch auch kollidiert mit saloppen Formulierungen wie „haben wir nichts / mehr am Hut“, „dem großen Knall“ oder „aus dem / Sessel zu kippen“. Reimfrei, frei in der Form, jedoch rhythmisch bedacht gestaltet, verorte ich das Gedicht ebenfalls im 20. Jahrhundert. Den Fokus auf Details gerichtet („Schornsteine glühen“), die Bilder einfach aber stark („die Wüste ein Wald“) und angesiedelt vor „dem großen Knall“ scheint mir das Gedicht durchaus politisch zu sein. Ohne jetzt schon in die Auslegung abzuschweifen, schließe ich den Ersten Weltkrieg als Bezugspunkt aus, setze das Gedicht also in die Weimarer Republik und hinter den Expressionismus – und hoffe, dass ich damit nicht ganz danebenliege.
Doch genug der Spekulationen, denn das zeichnet für mich ja die Blindverkostungen aus, dass man die Texte völlig frei von allem Ballast und aller Ablenkung splitternackt vor sich hat. (Anbei ist es eine Marotte von mir, Gedichte als Bildchen zu betrachten: Die Form eines nach rechts gewandten, voranwalzenden Panzers mitsamt Kanonenrohr kann daher durchaus reiner Zufall und Einbildung sein.)
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Hanna Scotti:
Für mich und meine poetische Lebenseinstellung hat dieses Gedicht einen höchst sozialpolitischen aktuellen Bezug: Knall = systemcrash des Sozialstaates. Ich schiebe den Text mal  ganz mutig in die Kategorie: neue politische Lyrik. Diese Sparte muss sich die Kritik gefallen lassen, nicht „scharf“ genug zu sein. Auch dieser Text legt zwar den Finger in die Wunde, verzichtet aber auf Polemik. Gestehen muss ich allerdings, dass ich von Zeitleisten wenig Ahnung habe.
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Matthias  Engels: 
Da muss ich gleich einmal einhaken. Ihr seid euch da, was die Zeit der Entstehung angeht, ja schon ziemlich einig und ich will erstmal gar nicht widersprechen. Stefanie, du erwähnst sowohl Brecht als auch Benn. Da käme dann in deren Nachfolge so ziemlich jeder Lyriker des späteren 20.Jahrhunderts (da wären wir wieder) infrage, oder?  Es sind wohl die zwei einflussreichsten Lyriker in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Ich hab ja nichts gegen berühmte AutorInnen. Auch der Verfasser/die Verfasserin dieser Zeilen genießt einen gewissen Ruhm- ist aber nicht unter den Genannten!- Wie genau entsteht eigentlich dein Eindruck, es müsse von einer Frau geschrieben sein?
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Stefanie Jerz:
Wie  ich auf weibliche Urheberschaft komme? Marcel Reich-Ranicki sagte einmal: „Frauen können keine Dramen schreiben. Sie sind des Pathos nicht fähig.“ Diese Zeilen sind angenehmst pathosfrei. *nein  Scherz* Ich bin durch die Leichtigkeit des Textes gleich zu Mascha Kaleko geführt worden…wobei sie das wohl nicht ist…wäre zu einfach.
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Matthias Engels:
Da hast du ein schönes Zitat gebracht, Stefanie. Und richtig: Pathos scheint die Sache unseres Autoren/unserer Autorin nicht zu sein!- Marcel Reich-Ranicki zufolge müsste es also ein Text einer AutorIN sein, aber ob der leider verstorbene Kritiker unfehlbar war…wer weiß!
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Stefanie Jerz:
Über lange Zeit hinweg war ich MRR böse deswegen…sehr sogar…bis ich begriff, dass das auch eine Auszeichnung sein kann. Hab ihm auch eine Dramaminiatur dazu geschickt…leider hat er nie drauf geantwortet…verstehe ich. Aber weiter zum Text.
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Hanna Scotti:
Reich- Ranicki, er ruhe in Frieden in seinem Ruhme, ich stehe seiner Lebensleistung und seinen poetischen Ansichten sehr kritisch gegenüber. Sprich: Von Frauen hatte er keine Ahnung, das teilte er aber mit vielen seiner Artgenossen. Dieser Einwurf musste unbedingt sein, aber nun zurück zur Textarbeit.
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Sebastian Schmidt:
Ihr habt natürlich recht, dass in den Versen nicht der feierliche Pathos mitschwingt. Aber in gewisser Weise finde ich doch, dass die Melancholie, gerade auch in Verbindung mit dem Versmaß, etwas Bedachtes, Ruhiges transportiert, das für mich ein bisschen pathetisch wirkt. Jedoch pathetisch nicht im negativen Wortsinn, sondern beim Wort genommen: Getragen, auch ein bisschen in sich ruhend und über den Dingen stehend. Zumindest suggeriert die Sprache das, der Inhalt ist vielschichtiger.
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Matthias Engels:
Eine kleine Nachfrage noch:
Sebastian, dessen Bild vom Panzer ich köstlich finde, rückt den Text in seiner Antwort zeitlich schon ein ganzes Stück weiter  nach vorne, etwa in die 20er Jahre. Was sagen die anderen dazu?- Wären dieses Vokabular und diese Reimfreie und Dissonante denn dort denkbar oder nicht? -Und WARUM?
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Hanna Scotti:
Ist es vielleicht Resignation, lieber Sebastian? Wir unterstellen den Dichtern immer gerne eine ruhige, weise Haltung. Drückt dieser Text das wirklich aus? Ich finde das fraglich. Ich bin mir nicht sicher, ob in den 20igern nicht eher Kämpfer am Zuge waren. Zumindest die Frauen ( ich liebe die Sufragetten) hätten niemals so geschrieben. Und überhaupt, vermutlich schauten die Menschen, besonders auch die Dichtergeister nach vorn. Das Reimen war damals, glaube ich, ein wichtiger Bestandteil eines konsequenten Regelwerks in der Lyrik, ebenso das Vokabular. Na- und Dissonantes schädigte eher den Ruf des etablierten Dichters. Jedoch, einige Rebellen gab es schon : Hesse, Kafka… aber wohl mehr in der inhaltlichen Auseinandersetzung als in der Form.
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Sebastian Schmidt:
Das ist eine schöne Überlegung, ob es nicht auch Resignation sein könnte. Aber darauf kann die Antwort nur sein: Natürlich kann es das. Denn je nach Auslegung könnte es sich ebenso um ein lyrisches Ich handeln, dass auf eine Veränderung von außen gewartet hat, jedoch ganz und gar enttäuscht ist, dass nichts geschieht. Aber irgendetwas gefällt mir an dem Gedanken nicht so sehr, dass hier ein lyrisches Ich aus seinem Kämmerchen spricht und lieber aus dem Sessel kippen will, als selbst noch zu versuchen, etwas zu ändern; lieber alles hinzunehmen, weil es zu enttäuscht war.
Mehr noch mache ich da eine Haltung aus, die sich in der Rolle gefällt, alles genau beschaut zu haben und nun auf ein Ende – welches auch immer – wartet, in der Gewissheit, dass es herannaht. Damit kommt das lyrische Ich nicht so ungeschoren davon, einfach sagen zu können: Nun war alles so unangenehm, jetzt kann ich auch nichts mehr ändern. Ich denke, dass es sich mehr um eine bewusste Entscheidung zur distanziert-feierlichen Betrachtung des bevorstehenden Unterganges handelt. Auch wenn das unter Umständen viel, viel zu apokalytisch klingt.
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Stefanie Jerz:
Wie schreibt mein Zweitlieblingsdichter Hugo von Hofmannsthal im „Brief des Lord Chandos“?:
„Es  gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich.  Der fiktive Verfasser des Briefs gibt  nach dieser Einsicht das Schreiben auf. Hofmannsthal und viele weitere  glücklicherweise nicht. Sehr  zu empfehlen, diese Lektüre, auch wenn ich sie längst nicht ganz  erfasst habe. Überhaupt bin ich gespannt von meinen Kollegen hier mehr dazu zu hören. Bin keine studierte Literatin, weiß aber doch, dass es um  die Jahrhundertwende zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gerade in  der Literatur eine kulturelle Krise gegeben hat.
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Sebastian Schmidt:
Ich halte das durchaus für denkbar, dass das Dissonante und Reimfreie in die Zeit passt. Mit dem Expressionismus ist alles möglich geworden, das bewusste Abgehen von überkommenen Strukturen und die Umkehrung der poetischen Werte beziehungsweise die veränderte Sichtweise auf das Subjekt als zerfallendes Objekt in einer splittrigen Welt. Geradezu unumgänglich ist es, einen Blick in die „Menscheitsdämmerung“ zu wagen. Wenn man darin ein bisschen liest, dann fällt, zumindest mir, immer wieder auf, dass die Strukturen der Gedichte oft gänzlich zerhauen wurden, dass allerdings nur langsam der Reim aufgegeben wurde. Eigentlich ist das seltsam, denn man würde erwarten, dass Lyrik, die im Umbruch stattfindet, davor nicht Halt machte. Aber da schweife ich ab. Worauf ich hinaus will: Auch wenn also in den Gedichten der „Menschheitsdämmerung“ immer noch viel gereimt wird, es finden sich auch zahlreiche Beispiele, die mit dieser Tradition brechen. –
Beim Durchblättern stieß ich gerade auf folgende Verse von Wilhelm Klemm aus dem Gedicht „Der Baum“: „Der Leib verwandelt sich im Lauf der Jahre, / Die Seele sucht ihre tausend Wege, / Alles, was ich bin, samt den Geschlechtern der Menschen / Strömt vorüber und kennt kaum das Ziel.“ Dass ich bei diesen Zeilen gelandet bin, war Zufall, dass sie sich jedoch so gut mit denen der Blindverkostung decken, erschreckt mich ein bisschen, auch wenn bei Klemm nicht der Krieg direkt thematisiert wird.
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Matthias Engels:
Da hast du schöne Zeilen als Beispiel für ein ähnlich frei strukturiertes Gedicht -hier- des Expressionismus gefunden! Insofern wäre die Zeit glaubhaft, aber ich kehre noch einmal zu Stefanies Zweitlieblingsdichter (der Erstliebling ist vermutlich Rilke?) zurück und frage:
Wenn ich jetzt sagen würde,“Rückwarts“ sei ein  Hofmannsthal-Text- warum würdest du das -rein aus der Wortwahl und Form heraus- wohl nicht glauben?
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Stefanie Jerz:
Weil die Form dieses Textes noch einmal ein Stück freier, unbestimmter ist. Und eben „zu leichtfertig“ für ihn…diese Angaben sind wie immer ohne Gewähr. Die letzten beiden Zeilen sind es, Matthias. Es ist noch Darben nach dem Krieg spürbar. Genauso die Erleichterung nach dem Schock. Übrigens richtig, lieber Matthias: der Erstliebling ist Rilke.
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Matthias Engels:
Hier muss ich nochmal ein wenig bohren! Tut mir leid, Stefanie, es tut auch nicht weh: Welcher Krieg? Und welcher Schock? Hier geht es doch im Text selbst recht unspektakulär zu? Oder nicht? UND: Gibt es denn -ganz konkret- Begriffe, die der gute Hugo nicht gekannt haben könnte? Etwas, dass ganz deutlich eine Enstehung um 1900 unmöglich macht? Wenn ich solche Spielchen mit meinen Lesekreis-Leuten mache, gehen die meist ganz pragmatisch da heran und suchen Begriffe wie „Waschmaschine“, „Zebrastreifen“ oder „Festplatte“, um einen Text schon mal grob zeitlich zu verorten. Meist klappt das ganz gut! Wie sieht es hier aus?
Stefanie  Jerz:
Ich weiß, du spielst auf die Schornsteine an. Industrialisierung! ich hätte doch Geschichte studieren sollen!…Ich allerdings hab sie als Symbol für Wohlstand (evtl. bedrohten) genommen…Habe gerade bei Wikipedia geschaut und bleibe bei den 1920er Jahren.
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Matthias Engels:
An die Schornsteine dachte ich grad gar nicht, aber gut gelesen, ja! Ich meinte eher:…Wünsche, Wald, Wüste etc. dürften ja klar sein.-…
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Stefanie Jerz:
Für mich der Hinweis auf überstandenen Krieg (Erster Weltkrieg), den Schrecken noch in den Knochen.

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Matthias Engels:
Aber ich leg nochmal den Finger auf Worte und Begriffe wie: „sich auszählen lassen“, „großer Knall“, „nichts mehr am Hut haben“-

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Stefanie Jerz:
Passte für mich auch in diese Zeit.

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Matthias Engels:
 -Okay! Vorher aber nicht, oder? 
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Stefanie Jerz:
Keinesfalls!Vielleicht sogar die dreißiger Jahre. Else Lasker-Schüler passt für mich. Zumal sie in einem Theaterstück den drohenden Holocaust quasi vorausschrieb. was mich wieder einmal zu der Frage treibt, ob wir Menschen nun aufschreiben was wir tun oder zu tun in die Lage kommen, was wir schreiben und erdenken können? Am Anfang war das Wort. Was für ein Verhängnis dann die menschliche Fantasie!? Aber das wäre wieder was für eine andere Unterhaltung.
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Hanna Scotti:
Kurz und bündig : es ist neue politische Lyrik. Hinweise dazu:
Individualisierung, protestantische Moral, politische Resignation, Schaffen eines persönlichen, pseudosicheren Raums aber auch Aufbruch anderer Lebensformen, nur abgegrenzt und abgesichert. Es ist für mich ein in sich revoltierendes schizoides Menschenbild, also kämen für mich die 60iger Jahre ins Spiel, eventuell auch Anfang der 70iger. Aber ich bleib mal bei neuer deutscher politischer Lyrik
Die Festung Kirche und ihre Vorstellung von Moral, die ich auch in diesem Gedicht lese, bröckelte, jedoch blieb es beim Bröckeln. Die Daseinsberechtigung dieser starken Institutionen wurde nur von einigen radikalen Literaten und Denkern angezweifelt. Sie gerieten damit bei der Zunft ins Abseits. Erst viel später, mit gehörigem Abstand, erhielten sie die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.
Der Buddhismus wurde in dieser Zeit in den Westen getragen. ZEN, Osho (mit Sex, unerhört!!, aber wichtigen Anstößen, nicht nur praktisch sondern auch intellektuell)– Was hat das nun mit diesem Gedicht zu tun: Es läßt, ( ob es gelingt oder nicht, liegt an der Einlassung des/der Lesers/in) „das Gute und das Böse“ im Gestern und  im Morgen, Sich zu bescheiden und darin sein Heil zu suchen ist eine typisch christliche Haltung und in meinen Augen fade. Das hatten wir alles schon. Da fehlt mir das Britzeln von Paradigmenwechseln. Um es mit Karl Valentin zu sagen : Es ist alles schon gesagt worden, nur noch nicht von mir.
In der östlichen Literatur wird ausschließlich der augenblickliche Augenblick gesehen. (mein Steckenpferd, wie ihr ja wißt). Dadurch eröffnet sich eine neue Dimension: Die Alliteration der letzten zwei Zeilen wird dann nicht mehr als „sich persönlich  zufriedengeben mit dem Nötigsten“ innerhalb der Fülle des „Anderen“ betrachtet.  Die Metaphern von Wüste und Wald werden zu einem lebendigen „sowohl als auch“ und dieses detalierte Bild löst ein inneres Empfinden von Wohlbehagen aus, für diesen einen Moment. Solche Sequenzen aneinandergereiht, machen zufrieden und erscheinen als echte Lösung, jedenfalls nach meiner Meinung. Sollte der /die VerfasserIn tatsächlich an dieser Stelle angekommen sein ,was ich auf Grund der Wortwahl, ganz besonders auch deutet die Überschrift darauf hin, nicht glaube, wäre es  für mich ein Meisterwerk. Aber mein Anspruch an ein Gedicht ist nicht zeitgemäß, ich weiß das. 
Sowohl Rilke als auch Hesse (z.B.) würden sich in meinen Gedanken wiederfinden, davon bin ich überzeugt. Eine anmaßende Spielerei? Du hast mich gefragt, Matthias, ich habe aus meiner literarischen Hexenküche geantwortet.Muss ich jetzt mit einer Verbrennung rechnen? 
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Matthias Engels:
Unter keinen Umständen, Hanna! Ich bin einfach ganz Ohr und interessiert! 
Das sind äußerst spannende Gedanken, die dieser kleine Text hier bei dir auslöst. Ich stimme dir zu, wenn du sagst, dass die Haltung unseres lyrischen Ichs am Ende nicht unbedingt postitiv und Wohlbehagen zu nennen ist. Die hier auch schon genannte Resignation sehe ich -oder besser- spüre ich hier allerdings auch nicht. Ich rekapituliere aber noch einmal kurz das den Wortschatz betreffende, denn zur tieferen Interpretation werden wir später noch genügend Zeit haben.
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Stefanie Jerz:
Das  kann ich absolut nachvollziehen, was du da an Brücken baust. Da ruht  eine/einer in sich selbst, das Chaos außerhalb betrachtend…aber – hier  widerspreche ich – nicht erleuchtet, weil eben auch der Text leicht  zynisch gehalten ist. Der Wunsch, vor dem großen Knall aus dem Sessel zu  kippen, passt mir da nicht dazu. 
Toll! Neue Impulse für das Vexierbild!
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Sebastian Schmidt:
„Zwei Seelen …“ Ihr wisst schon! Denn einerseits stimme ich dir, liebe Hanna, zu, dass sich deine Überlegungen gut auf den Text übertragen lassen und, wie Stefanie schrieb, neue Impulse für die Deutung bringen. Das beweist, dass es sich um einen durchdachtes, bewusst offenes Gedicht handelt, das nicht vorgeben, sondern anregen will.
Andererseits muss ich auch gestehen, dass die theoretische Tiefe deiner Überlegungen auf mich etwa sehr wirkt, als wollte man mehr an die Verse herantragen, als wirklich aus ihnen hervorscheint. Besonders die protestantische Moral, von der du sprachst, die finde ich in der Form nicht. Für mich erscheint hier lediglich ein Hinweis darauf, dass das Gedichtende sowohl als „Moral der Bescheidenheit“ ausgelegt werden kann, als auch als ironische Wendestelle, die mit den Vorstellungen spielt, die von außen an ein Individuum, hier das lyrische Ich, herangetragen werden. Nach dem Motto: Was wollt ihr eigentlich! Wenn ihr euch nicht so haben würdet, dann wäre euch auch die vermeintliche Wüste ein Wald! Dass sie dabei immer eine Wüste bleibt, das würde dann ironisch herausgestellt werden und könnte auch als „Recht zum Hedonismus“ wider den (politischen) Vorgaben gelesen werden. Was genau zur gegenteiligen Auslegung führte. Von daher: Für mich bleibt noch immer alles offen und verrätselt.
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Matthias Engels:
Rein vom Vokabular her erscheint das Ganze also recht zeitlos. Einige sprachliche Wendungen finden sich jedoch, die zumindest ein Entstehen vor -sagen wir- dem ersten Weltkrieg undenkbar werden lassen. Lässt man die modernen Zeilenumbrüche mal außer acht, könnte dieses Gedicht also von dort bis heute praktisch IMMER entstanden sein?Ich persönlich fände das ja ein positives Merkmal eines Textes, da Begrifflichkeiten wie „Festplatte“ oder ähnliches so furchtbar schnell veralten.
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Sebastian Schmidt:
Du hast mich auf eine Idee gebracht! Mensch, klar. Wenn wir schon bei der Blindverkostung sind, dann hauen wir einfach alles über den Haufen. Das Gedicht muss gar keine Resignation sein, das kann auch einen Ausweg aufzeigen. Völlig vernachlässigen müsste man die Zeilensprünge und den fehlenden Reim. Aber hier kann sich das lyrische Ich auch bewusst ins Private zurückziehen, der ganzen Welt abschwören, die Schornsteine zum Glück aus der Ferne glühen sehen, gemütlich im Sessel sitzen. Das wäre der Biedermeier im 19. Jahrhundert. Das Kleine zum Großen erhoben, die Wohnung zum Rückzugsort. Stille Rebellion gegen den „großen Knall“, lieber heimlich abtreten und aus dem Sessel kippen. Inhaltlich passt das, von der Form her nicht. Eventuell gab es ja Tendenzen zu einem Neo-Biedermeier ein gutes Stück nach dem Zweiten Weltkrieg? Auch die Naturlyrik hatte da ja Früchte getragen, indem sie bewusst den Blick vom direkten Schrecken abwandte.
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Matthias Engels:
Sebastian, tatsächlich war die Masse der Lyrik, die unmittelbar nach dem 2.Weltkrieg  erschien, Naturlyrik und bewußt fern ab von Weltanschaulichem oder Politischem. Eine Art Neo-Biedermeier würde ich das aber nicht direkt nennen.

-Das  waren ja jetzt schon mal spannende Annäherungen an die Form und das mögliche Alter des Textes, das man daraus eventuell herauslesen kann.  Nun zum Inhaltlichen:
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hand_feder_04Frage 2:
Worum geht es letztlich hier?
Rein inhaltlich? Könnt ihr das zusammenfassen?

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Hanna Scott
i:
Wie oben schon gesagt ist es eine lethargische Einlassung für mich auf die Dramen dieser Welt, eine, vielleicht bittere Zustandsbeschreibung ohne Überraschungen, aber nicht ohne Humor, vielleicht sogar satirisch? Aber nur im Ansatz, es trieft nicht. (das wäre auch ein Hinweis auf einen lebenden Verfasser. Ich glaub‘ es ist ein Mann, das werde ich aber nicht begründen, sonst darf ich hier nicht mehr mitmachen.
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Matthias Engels:
Oh doch, Hanna! Das wirst du! Hier herrscht ja Redefreiheit!

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Stefanie Jerz:
Lacht sich, auf die G
efahr hin, hier dann auch nicht mehr mitmachen zu dürfen, eins in den Damenbart.

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Hanna Scotti:
Na gut : Um ein Klischee zu bedienen: Mann, Dichter, ein Guinnes oder einen süffigen Rotwein der edlen Sorte, an gehäuteten  Schneckenbrüstchen schlürfend und die phantasievolle Hingabe an das Leid der Welt genießend, besonders aber seinen ganz persönlichen Sissi – Fox celebrierend ist er der perfekte Grandseignieur der Dichtkunst. ( Aua, nicht hauen)
Ich persönlich spiele ja gerne mit den Underdogs, bei denen der Verstand die Haare weichen läßt und die verbleibenden am Ende des Stammhirns sich mit dem xxl – Tagebart zu Dreadlocks verweben.Diese Spezies kompensiert ihre Potenzschwäche wunderbar mit Gehirnmasse. Das macht rettungssüchtige Damen ungemein an.- Wie komme ich darauf? Diesesr Text erinnert mich an solche selbstmitleidigen Ergüsse.
Nichts für ungut. Ich irre mich bestimmt. Natürlich sind unser Autor (ich bleibe beim Mann, der noch lebt) Du, Matthias und Du, Sebastian ausgenommen vom Klischee.
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Matthias Engels:
Keine Sorge, Hanna! Jedem seien seine Erfahrungen und Beurteilungskriterien gelassen! Ich sammele nur eure Meinungen. Stefanie z.B. ist fest davon überzeugt, dass es sich bei dem Urheber von „Rückwärts“ um eine Frau handelt! Bei dir überwiegt also der Eindruck der Lethargie und der von etwas bitterem Humor. Da kann ich persönlich ganz gut mitgehen. Mal sehen, was die anderen so sagen….
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Sebastian Schmidt:
Da wir zwar eine Verortung versucht haben, aber alles bis zu deiner Auflösung mehr oder weniger offen bleibt, versuche ich jetzt gar nicht, irgendwelche geschichtlichen oder literaturhistorischen Anknüpfpunkte zu finden. Ich schaue also mal ganz neutral in den Text. Was mir besonders auffällt, das ist wohl der „große Knall“. Ganz ohne Assoziation kommt der nicht daher, das „Nach jedem Schlag Musik“ erinnert doch irgendwie an eine wie auch immer geartete Parade. Also ins Feld des Militärischen setze ich das Gedicht – wie gesagt, ohne jeden konkreten geschichtlichen Bezug. Mit sich selbst nichts mehr am Hut haben, heißt ja, sich zu verlieren, einen wichtigen Teil von sich aufgegeben, geopfert oder anders eingebüßt zu haben. Das Bescheiden am Ende, in der Wüste das Leben zu sehen, das Karge zu akzeptieren, ist progressiv. Hier schaut jemand angstvoll nach vorn, eventuell auch angstvoll zurück – im selben Moment. Dass die Sprache dann so nüchtern ist ohne viel Umschweife, nah am Jargon, das unterstreicht meines Erachtens das gewollte Nicht-Ablenken vom eigentlichen Thema: Hier droht eine Veränderung, auf die das lyrische Ich reagieren will, die es (für andere) deutlich nachvollziehbar reflektiert.
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Stefanie Jerz:
Guter Satz, Sebastian: „Hier schaut jemand angstvoll nach vor, eventuell auch angstvoll zurück.“
Genau diese Stimmung empfinde ich beim Lesen auch. Zuzüglich einer Sehnsucht nach Ausschweifung, Genuss, Hingabe an den Augenblick. Merke gerade, dass ich das Gedicht sowohl finster, als auch positiv lesen kann. Setze ich Krieg als Bild nicht ein, kann es einfach auch die Jugend sein, die da mit dem Erwachsenwerden hadert…oder bin ich da in der Interpretation zu frei? Else Lasker-Schüler fällt mir da gerade wieder ein.
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Sebastian Schmidt:
Nein, ich denke nicht, dass das zu frei ist, denn die Idee mit der Jugend hat mich gerade auf das Alter als solches gebracht! Ich stelle mir gerade vor, wie ein greiser Mensch am Fenster sitzt (zu welcher Zeit auch immer), der große Knall, der Tod, eventuell verbunden mit Leid – davor aus dem Sessel zu kippen, die Erlösung, die man eventuell selbst nicht mehr herbeirufen kann? Eine interessante Sichtweise, das angstvolle Zurück- und Nach-vorn-Schauen passte da auch. Dann wäre man weg vom Politischen.
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Stefanie Jerz:
Genau so las ich das Gedicht zuerst…nicht politisch. -Und ich beglückwünsche die Autorin (für mich steht jetzt fest, es muss eine sein), dass sie es durch ihre Wortwahl zeitlost gemacht hat (da bin ich gerade bei euren Überlegungen von vorhin.)
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Hanna Scotti: 
Auch das Private ist politisch, sonst sind wir wieder in der bewertenden Dualität. Diese Behauptungen -was ist privat, was ist politisch- will ich hier nicht so stehen lassen, wäre vielleicht sogar im Zusammenhang mit diesem Gedicht sehr interessant, führt aber vielleich zu weit?
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Stefanie Jerz:
Ging bei der Unterscheidung ja nur darum, die vielen Facetten herauszuarbeiten, die das Gedicht eventuell haben könnte.
Natürlich hast du recht: lässt sich nicht trennen.
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Matthias Engels:
Tatsächlich stimme ich Hanna hier ebenfalls zu! Das kritische oder politische Gedicht braucht keinen größeren Kontext als den Menschen an sich, um kritisch oder politisch zu sein. Der ganz normale tägliche Mief IST bereits Politik, denn er enthält die Gesellschaft im Kleinsten.
Aber das wollen wir hier tatsächlich nicht vertiefen -nur festhalten: man kann hier, in diesem kleinen Text, durchaus mal in Richtung des Größeren denken…..
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Sebastian Schmidt:
Ich bekomme dennoch gerade eine Gänsehaut, wenn ich die letzten Verse aus der traurigen Sicht eines alten Menschen lese.
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Stefanie Jerz:
Jaaa…die Gänsehaut kenne ich. Und ich kenne (unter den männlichen Dichtern, die ich gelesen habe) nur bei Rilke diesen Mut über den Tod zu schreiben. Noch einmal zur Gänsehaut: Das ist eine tolle…eine so lebenshungrige Art, die diese Sprache vermittelt. „Aus dem Sessel kippen“ so verspielt, dass sie aber erst durch die Hintertür muss, oder?
Den Inhalt dieses Gedichtes kann ich für mich so zusammenfassen: Gekonnt hat hier der Verfasser in leichter Sprache eines (heute würde man sagen: Coming-of-Age) Heranwachsenden (die dunkle Bedrohung des Erwachsenenlebens und des Todes aber Spürenden),  die Stimmung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eingefangen. Den nächsten spürend, vorausahnend, weil Krieg sowieso niemals Lösung ist, sondern lediglich Verschiebung eines Konflikts. Diese dunkle Drohung will das lyrische Ich hier fliehen. Sie am liebsten nicht erleben. Dem großen Knall schon vorher entkommen. „Aber es geschieht nichts.“ Oberflächlich kann das auch das Phlegma und die gleichzeitige Sehnsucht der Jugend nach Aufregung bedeuten. Näher hingesehen zeigt sie vielleicht die Stagnation, das Nichthinsehenwollen, was kommen kann. Ein Ruhen vor sich hin, dass nach den Schrecken eines Krieges auch sein muss. Dass aber die Schornsteine qualmen, die vielleicht zu Waffenfabriken gehören könnten, beunruhigt gleich wieder. Aber wenigstens diese Atempause gibt es noch…wer sich bescheidet, wer nicht allzu viel verlangt, dem ist auch die Wüste ein Wald. -Bin gespannt, auf wievielen Holzwegen ich gelandet bin. 
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Matthias Engels:
Schöne Deutung, Stefanie- diese Diskrepanz aus profanen Schornsteinen (wenn sie hier auch glühen statt  zu qualmen) und ihrer möglichen Zugehörigkeit zur Waffenfabrik habe ich  noch gar nicht gesehen. Man könnte jetzt noch weiter gehen mit diesen  Schornsteinen und sie ganz anders zuordnen, aber ich will euch nicht  vorgreifen. Der  friedlich bullernde Kamin mit dem rauchenden Schornstein ist ja in der  Regel eher ein Symbol der lauschigen Heimelichkeit, in deren Mitte man  sich gern im kuscheligen Sessel platziert -ein Bild, das dem von  Sebastian skizzierten Biedermeier-Ideal sehr nahe kommt. Durch die  kleinen Verschiebungen des hier „glühenden“ Schornsteins und des  „Kippens“ aus dem Ruhesessel ist tatsächlich schon einiges anders! Die  vordergründige Ruhe und Ordnung -trüber Himmel (leider so oft Normalität) und das Feuer im Ofen- wird hier in naher Zukunft zerschlagen  werden.
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Hanna Scotti
Rauchende Schornsteine, auch Metapher für „Kohle“ = Geld. Ich bleibe dabei, es ist ein „neuer“ Text
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Matthias Engels:
Ja, „der Schornstein raucht“ ist ziemlich prall mit möglichen Deutungen aufgeladen: wirtschaftlich: solange die Schornsteine rauchen wird produziert/geht es einem gut! Privat: heimelige, wohltuende Wärme in den eigenen 4 Wänden- aber man kann auch Stefanies Interpretation folgen und sagen,die Produktion, die dahintersteht, hält das Schlechte in der Welt in Gang- oder soweit gehen, darin evtl. sogar einen Krematoriumsofen zu sehen-immerhin sind es im Text einfach nur: „Schornsteine“- ganz offen! Dass sie hier nicht nur rauchen, sondern „glühen“ zeigt, dass irgendetwas -wie sagt man so schön neudeutsch- :over the top betrieben wird; über das Mass des Normalen hinaus.
….Dennoch, so gut eure Deutungen mittlerweile stimmen, zeitlich seid ihr immer noch ziemlich auf dem Holzweg.
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Sebastian Schmidt:
Na, je weiter man daneben liegt, umso mehr bietet doch der Text an Möglichkeiten. Es ist ja auch eine schöne Erfahrung, mal so richtig in die falsche Kiste zu greifen, am Ende springt einem der Jack in the box ins Gesicht und haut einem ein blaues Auge, aber man ist zumindest mit nur einem blauen Auge davongekommen. Denn wenn die Deutung sinnvoll ist, dann wird das Gedicht ja zeitlos. Aber ich denke, das ist Konsens in der Blindverkostung. Doch wenn du schon ein bisschen die richtige Fährte für uns auslegst, dann kann ich ja zumindest versuchen, zu folgen. Wenn der Biedermeier, der Expressionismus und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zutreffen, dann ist es eventuell etwas ganz Modernes?
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Stefanie Jerz:
Fein gesagt!!!
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Hanna Scotti:
Joooohhhh, was ist schon Zeit, was ist Tempo? Einsteigen und mit Lust mitfahren ersetzt  mühevolle Suche nach manchem/r zu fernen LiebhaberIn. – Will sagen, ich finds sexy mit euch. Vielleicht hätte dem Autor auch diese Variante gefallen und er/sie hätte dieses Gedicht nicht geschrieben. Ich bleibe immer noch dabei : Es ist ein Text von heute.
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Matthias Engels:
Den Sex-Appeal dieses Gesprächs mit euch kann ich nur bestätigen. Wie Sebastian eben bemerkte: Es gibt keine „endgültige“ Deutung! Die Reihe lebt ja davon, dass man die Zeitumstände, unter denen ein Text entsteht, völlig ausgeblendet hat. Manchmal, wenn ein Werk sehr stark an seine eigene Realität geknüpft ist -inhaltlich und auch schon rein begrifflich- fällt es leichter. Ich habe mittlerweile eine Vorliebe entwickelt für Texte, die theoretisch IMMER gültig und entstanden sein könnten. Auch bei einem Bild oder einem Musikstück fragt man sich ja nicht als Erstes, wann und unter welchen Bedingungen es entstand- man lässt es wirken und schaut, was es Einem sagt!

Ich fasse noch mal kurz zusammen:
Ihr habt nun schon eine ganze Menge hier heraus- und hineingelesen! Es könnte um das Erwachsenwerden gehen und den Rückblick auf die Kindheit samt Ausblick auf das Kommende. Andererseits wäre auch eine Rückschau aus dem Alter auf das vergangene Leben denkbar. Den „großen Knall“ lest ihr zeitgeschichtlich, politisch, am ehesten als Krieg. Das etwas flapsige „aus dem Sessel kippen“ ziemlich deutlich als Tod. Das sind schon sehr viele und sehr unterschiedliche Ansätze. Das hier eine elementare Erfahrung und düstere Ahnung recht salopp thematisiert wird, scheint sich herauszukristallisieren. Das Gedicht ist postiv wie negativ zu lesen, sagtet ihr ebenfalls. also ist es hier nicht so, dass eine klare Stimmung hervorgerufen wird? Sei es eine elegische, melancholische oder gleichgültige? 
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Stefanie Jerz:
Hinaus- und hineingelesen. Das stimmt. Ergänzen möchte ich noch, dass auch fatalistische Töne vorhanden sind.
Und mit unseren Wünschen,
noch vor dem großen Knall aus dem
Sessel zu kippen, das wäre ein Glück.-  wenn das nicht fatalistisch ist…ob der große Knall kommt ist hier nicht (etwa mit einem „falls) infrage gestellt sondern als unveränderliches, lediglich im Zeitraum nicht festgelegtes „wenn“ gemeint, oder nicht? Fatalistisch also weil scheinbar Unausweichliches droht und dem lieber durch Tod entgehen…weil sie sowieso nichts ändern können. 
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Sebastian Schmidt:
Ganz im Ernst, Matthias? Mittlerweile dreht sich in meinem Kopf jedes Wort und jeder Vers – und das Gedicht ist eigentlich alles. Es ist melancholisch, wenn man betrübt vor- oder zurückschaut auf ein bestimmtes Ereignis; es ist gleichgültig, wenn man darin eine Art von Resignation, Apathie liest: diese Mentalität „Was soll ich draußen von hier drinnen bewirken?„. Schwermütig wird es ganz und gar, wenn man an das Altern denkt, daran, dass einem die Möglichkeiten genommen wurden, selbst zu handeln und zu entscheiden. Nicht zuletzt ist es fatalistisch, wie Stefanie gerade schrieb, dadurch auch irgendwie ironisch. Dieses Gedicht, auch wenn es auf den ersten Blick sicher nicht der Masse Lieblingsgedicht ist, bietet doch schon jetzt, nach dieser kurzen dialogischen Beschäftigung, genau das, was ein gutes Gedicht bieten sollte: die Möglichkeit, sich selbst in das Gedicht zu begeben, um dort mit sich selbst und gemeinsam mit dem lyrischen Ich einen Sinn zu suchen, in dem man sich selbst eingewoben in Versen findet. Das ist doch etwas ganz Großartiges!
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Stefanie Jerz:
Da stimme ich dir sowas von zu, Sebastian!
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Matthias Engels:
Das ist genau die Mischung, die ich am Werk des Verfassers/der Verfasserin dieses Textes so liebe, Sebastian! Du fasst es ganz gut zusammen: Eine Portion Resignation und Schwermut, aber auch ein Quäntchen ironische Hoffnung. wie sagt man?- Pessimisten sind enttäuschte Optimisten? Diese Haltung findet man bei fast allen Texten des/der Gesuchten.
Viele Texte vermitteln ja EINE klare Stimmung.Hier ist es auf interessante Art und Weise anders, finde ich.
Aber: könnt ihr die letzten beiden Zeilen vielleicht noch einmal aufzudröseln versuchen? Es ist ja jetzt nicht unbedingt eine stehende Redewendung, über die man so hinweg gehen könnte. Was hat die Wüste mit dem Wald zu tun? Die schöne Alliteration, eigentlich das einzige lyrische Strukturmittel hier, ist euch wohl gar nicht aufgefallen? 
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Hanna Scotti:
Wenn die Wüste zum Wald wird, hat das „Ich“ sein Ziel erreicht, die Verehrung des „Kleinen“ in allen Dingen, macht bescheiden und wunschlos zufrieden.  Ich erkenne den Sand und seine Bedeutung und den unermesslichen Reichtum des Waldes. Ich lasse mir Zeit ( ohne das Verschwinden hinter der Zeit gehts nicht und fühle, dass auch die Wüste ( Metapher) voller Leben und Lieben ist.
Das ist ein Ort, den auch Stefanie gut kennt, wie ich vermute.
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Stefanie?
Jepp! Da sind Hanna und ich Schwestern im Geiste. Das lyrische Ich hier ist, meines Erachtens, noch in der Zeitschleife, empfindet so etwas wie, nein: vermittelt mir so etwas wie Hohn oder Hochmut über das Außen.
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Sebastian Schmidt:
Na, aufgefallen doch, aber ich lege nicht so viel Wert auf solche Stilmittel. Sie sind für mich Zier, schön, aber nur von geinger Bedeutung. Wenn man so will, verbindetet die Alliteration die beiden Wort schon stark, aber diese Verbindung wird auch über den Vergleich ausgedrückt, bedürfte daher nicht dieses rhetorischen Griffes. Aber klar, die beiden Verse sollte man ein bisschen näher betrachten. Fangen wir einmal bei den Schlüsselworten an. „Wüste“: Ein Ort, an dem das Leben fehlt, ein karger Platz, spärlich bewohnt, spärlich bedeckt von anderem außer Sand oder Salz. Sie ist der Gegensatz zum Wald, der für Leben steht, der Vegetation, der Artenvielfalt bedeutet. Nun, der Kontrast ist leicht zu erkennen. Von einer Wüste spricht man ja aber nicht nur im geografischen Sinn, das Bild lässt sich übertragen auf alles, dem ein vitales Moment fehlt oder dem es abhanden gekommen ist.
Da wären wir wieder bei dem großen Knall, der wohl als Ursprung dieser zukünftigen Veränderung gedeutet werden könnte. Auffällig ist auch, dass die Assoziation Wüste – Sonne zu den glühenden Schornsteinen führt, die quasi das Leuchten der Sonne ersetzen und die Wüste des lyrischen Ichs im Gedicht noch trostloster machen durch eine Art Smog-Nebel, durch den hindurch man nur die kleinen Köpfe der rauchenden Schlote erkennt. Aber nun der Knackpunkt an der ganzen Sache: Wer sich bescheidet, dem könne diese Wüste ein Wald sein? Eine Herausforderung an das Verständnis! Eine Wüste bietet keinen Raum, sich zu bescheiden, in ihr kommt man um, wenn man sich bescheidet, überhaupt, was soll dieses altmodische bescheiden hier? Nein, entweder ist das „bescheidet“ bewusst so gewählt, um die anderen Formulierungen aufs Korn zu nehmen, oder aber die anderen Formulierungen sind recht gewagt in einer Zeit, die sprachlich einfach noch nicht so weit war. Aber das erscheint mir abwegig.
Es muss eine Möglichkeit geben, sich zu bescheiden in der Wüste, ohne umzukommen, irgendwie den Wald in ihr zu sehen. – Eventuell solle man sich auch schlicht bescheiden, dass einfach keine Veränderung eintritt, so wie in einer Wüste auch kaum neues Leben entsteht, ist es nicht schon vorher dort gewesen. Anschließend an eine Aussage von mir weiter oben, dass es auch etwas sehr Modernes sein könnte, könnte das ja auch ein Gedicht mit ökologischem Hintergrund sein. Schornsteine, Wüste und Wald deuteten in eine solche Richtung. Aber irgendwie gefällt mir dieser Ansatz nicht so gut. Was meint ihr?
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Matthias Engels:
Sebastian, du erkennst die verwirrende Wirkung dieser Zeilen, die sich gar nicht unbedingt beim ersten Lesen entfaltet, hier sehr gut. Ist es am Ende alles nur ein frommer Wunsch? Vielleicht sogar ein gewisser Sarkasmus oder Galgenhumor? Wer sich in der Wüste einen Wald ersinnt, verdurstet vielleicht glücklicher – aber er verdurstet! Was deinen ökologischen Bezug angeht, muss ich aber leider sagen: Da geht der Chili-Züchter mit dir durch!
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Stefanie Jerz:
Für mich klingt das einfach wie: erwarte nicht viel, dann bist du auch zufrieden. Ich bin nicht auf die Alliteration eingestiegen, weil sie so klar in ihrer Aussage ist. Auch sagt sie mir nichts Näheres über Zeitpunkt des Verfassens aus. – Darf ich mal ganz peinlich und blöd das Bild erzählen, dass ich die ganze Zeit habe. Das mein ich ganz fotografisch. Also ich sehe eine mondäne Salondame mit Zigarettenspitze im Art Deko Sessel sitzen, nein räkeln und über die Sinnlosigkeit des Lebens lästern…
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Sebastian Schmidt:
Und nach dem „wer sich bescheidet, dem ist“ pustet sie eine große Rauchwolke aus, „auch die Wüste ein Wald“? Hehe! Eine schöne Facette, die das Gedicht hier noch bietet – und ehrlich gesagt, wie schon bei deiner Assoziation mit dem Altern, Stefanie, wieder einmal auf den Punkt! Das Gedicht lässt sich wirklich prima aus dieser Sicht lesen. Warum auch nicht, es sind ja nicht alle Verse gleich goldene.
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Hanna Scotti:
Meines Erachtens beschreibt der/die VerfasserIn ein typisch christliches Menschenbild, miefig und fad. Es wird nur zurück und nach vorn geschaut. Die Salondame brächte den knisternden Touch, eine willkommene Brise.
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Stefanie Jerz:
Nachdem Matthias uns darauf hingewiesen hat, dass wir mit der Zeit wohl falsch liegen, tippe ich hiermit noch mal auf die eingangs von mir ebenfalls vermuteten 1970er! Linse gerade zur DDR rüber…In der Diktatur wird man enormst geschult in der Kunst der Andeutung…würde ebenfalls passen…muss ich aber noch wirken lassen, den Gedanken.
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Matthias Engels:
Herrliche Bilder! Ich muss aber scheinbar noch einmal präzisieren. Meine Aussage, dass ihr zeitlich recht weit danebenliegt, bezog sich darauf, dass ihr euch zuletzt sehr auf den Zeitraum Expressionismus/Weimarer Republik eingeschossen hattet. Das Biedermeier war ja eher ein theoretischer Gedankengang, der durch die freie Form des Textes ohnehin ausfällt- zu all euren anderen Vermutungen will ich nix gesagt haben……..
Nochmal zur letzten Frage und euren Antworten: „erwarte nicht viel, dann bist du auch zufrieden“, sagte Stefanie eben. Ich finde das sehr gut zusammengefasst! Hier tauchen auch die „Wünsche“ indirekt wieder auf, mit denen man „nichts mehr am Hut“ hat! Auf was kann man das nicht alles projezieren? Enttäuschte Hoffnungen kennen wir doch aus so vielen Bereichen! Im Zwischenmenschlichen, im Beruf, im Künstlerischen und vom Leben an sich. Auch im Gesellschaftlichen und in der Politik -klein wie groß- werden wir mit solchen konfrontiert! Und da steht man mit seinen kleinen Hoffnungen auf einmal und um Einen herum ist nur: WÜSTE -karge, unwirtliche Landschaft-tagsüber sengend heiß, nachts unmenschlich kalt! Aber: bescheide dich, Mensch! Und sehe auch in dem kleinen Steinkraut, dem kümmerlichen Kaktus Leben und Wald! ruft dieses Gedicht- wobei es mir das eher so dahinzuraunzen scheint als zu rufen. 
Der Wald, neben dem Rhein so ein urdeutsches, uraltes Motiv! Die deutsche Eiche, die Varusschlacht, die Romantik…Ruhe, Schutz, Schatten, weiches Moos und durch die Lücken in den Baumkronen fallendes, weiches, gefiltertes Licht.  All das muss für einen deutschen Geist, der sich als solcher verwurzelt fühlt, in der Wüste wie der Garten Eden erscheinen. Nationale DNA, sozusagen. 
Und dann ist da -in diesem sehr prosaischen Gedicht- noch dieser Klang am Ende: Wüste wird zu Wald, neben der Alliteration höre ich da auch: Wasser wird zu Wein, Gegensätze werden vereint; ein Wunder im Alltäglichen, Absurden, mitten im piefigen Mief.  – Aber ich betone: auch ich habe nicht die Deutungshoheit für dieses Gedicht; auch ich liebe es einfach aus völlig irrationalen Gründen und fühle mich in meiner eigenen Lesart ganz wohl:  Aber ich sage: verliert neben der allgemein auf das Leben an sich anwendbaren  Interpretation einen zeitgeschichtlichen Kontext nicht aus den Augen! 
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Stefanie Jerz:
Gut, dass du mich stoppst in der Zeitreise, war schon bei der Gruppe 47 und danach. Also Fluxkompensator wieder aus und bei den 1920er/30er Jahren geblieben. Matthias, den Begriff „Nationale DNA“ finde ich in diesem Zusammenhang durchaus passend, auch wenn ich ansonsten ein Problem damit habe. Aber ja. Gefühlsprägungen, bekommt man nicht raus. Bin ein Waldkind durch und durch. Und wer in dieser Fülle aufwachsen durfte, den haut so schnell auch nichts um. Also steckt in der Alliteration, in dieser Aussage,  auch eine Menge Kraft. Widerstandskraft!
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Matthias Engels:
Ich höre hier auch eine Art Widerstand- allerdings eher passiv und in Form von Verweigerung oder zumindest Desinteresse. Hier ist Jemand von dem unbestimmten Rumoren um ihn herum nicht wirklich gepackt und darin eingeschlossen. Vielmehr sieht hier ein lyrisches Ich auch die fatalen Seiten daran. Stefanies Bild der gelangweilt rauchenden Salondame passt hier ganz gut. Und: Ja, der Begriff „nationale DNA“ hat sicher einen gewissen Beiklang, aber wir verorten ihn mal wertfrei viiiiel früher als in der Zeit, die einem da sofort in den Kopf schießt. Ich wollte damit massgeblich den Fokus mal auf den Bereich „deutsche Verhältnisse“ lenken- davon gab es ja durchaus so ein paar, über die man ein Gedicht verzapfen könnte..
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Stefanie Jerz:
Da war ich ja mit meiner Vermutung weiter oben bei deutsch/jüdischen Verhältnissen. Es gab ja einige AutorInnen, die da früh genung hingefühlt haben, was nach dem ersten Weltkrieg noch so droht.
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Matthias Engels:
In der Tat, Stefanie. Nach meinem Verständnis sieht hier Jemand etwas Kommendes auch sehr klar, aber es hat nichts mit dem deutsch/jüdischen Verhältnis zu tun!
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Sebastian Schmidt:
Im Kontext des deutsch-jüdischen Verhältnisses hätte ich den Text keinesfalls gelesen, dafür halte ich die Bilder für zu ambig und willkürlich, auch ein bisschen zu schwach. Dennoch befinde ich mich ein wenig in der Bredouille, da deine Ausführungen zur Deutung, Matthias, sich ja auf die Kenntnis des Veröffentlichungsdatums stützen. Trotzdem überzeugt mich deine Interpretation nicht bis zum Ende. Der Begriff der „Nationalen DNA“ ist ziemlich gewagt, vor allem, wenn er gebunden ist an das Wort, und hier nur  das Wort „Wald“. Natürlich besitzt wohl der Deutsche einen literarischen Hang zum Wald, aber wohl auch alle anderen Länder, die ausgeprägte Baumlandschaften ihr eigen nennen dürfen. Überdies gefällt mir die Verallgemeinerung nicht so sehr, dass allein das Vorkommen des  Wortes „Wald“ im Stande sein soll, eventuell nicht nur in diesem Gedicht, sondern in allen Gedichten, diese Assoziationen hervorzurufen. Ich finde, das tut es auch nicht, gerade weil die deutsche Literatur so viel vom Wald spricht, verliert das Wort damit an Eigenheit und wird zu einem Wort, das ganz frei ist und noch immer nicht altbacken nach schaler DNA schmeckt.
Den Hinweis allerdings, dass hier auch Wasser zu Wein werden könnte, finde ich spannend, auch wenn es etwas eigenwillig ist, die Wüste gerade mit „Wasser“ konnotatoiv aufzuladen. Aber klar doch, dein Gedanke macht vor allem die etwas gekünstelt wirkende Alliteration zu etwas Greifbarem, das auf diese Weise sinnvoll in den Text eingeflochten werden kann. Ganz überzeugt mich diese Auslegung in einem modernen Kontext allerdings nicht, wobei eine Kritik jetzt den Rahmen sprengen würde.
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Matthias Engels:
Das war auch nur eine Abschweifung, Sebastian. Ich halte den Wald hier nicht für ein massgebliches Motiv- er zeigt einfach nur eine enge Verwurzelung von Autor/Autorin XY mit der heimischen Region….bescheide dich und ALLES kann dir HEIMAT werden- auch das steckt darin. Aber jetzt will ich nicht noch mehr Tipps geben, sondern lieber eine weitere Frage stellen:
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Wie interpretiert ihr eigentlich das -immerhin titelgebende: „wir lassen uns rückwärts auszählen“? -Oft ist ja der Titel nicht ganz unwichtig…..
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Sebastian Schmidt:
Es war klar, dass du zum Ende noch einen aus dem Ärmel schüttelst! Wenn ich mich nicht täusche, haben alle (mich eingeschlossen) gerade um diese Verse bisher einen Bogen gemacht! Ich gehe kurz in mich …
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Stefanie Jerz:
Boxkampf von 10 auf k.o.. Schlagabtausch, zusammen mit der Redewendung „Mit uns haben wir nichts mehr am Hut“. Niederlage, Selbstaufgabe. Da ist sie wieder, die fatalistische Einstellung zum Schicksal.
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Matthias Engels:
Okay! Ja! Aber beim Boxen zählt man doch von 1-9??Aufwärts!
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Stefanie Jerz:
Oh, ups…das war der Raketencountdown, der rückwärts geht, ahhhhhh!!!!!Zündung!!!
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Matthias Engels:
Aha! Wo zählt man denn noch rückwärts? 
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Hanna Scotti:
Der Titel heißt  „rückwärts“
Dreh dich nicht um, schau nicht auf Sodom, sonst erstarrst du. Dreh dich nicht um, denn der Plumsack geht um …   
Gehst du rückwärts, siehst du nicht, was hinter dir ist.
Wenn du dich umdrehst, verlierst du alles, was du liebst an den Tod.
Schaust du „Ihm“ ins Auge, bist du genau so verloren.
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Stefanie Jerz:
Das genau trifft’s!
Hanna Scotti:
Mir scheint, dieses Gedicht führt sich selbst mitsamt seinem Verfasser an der Nase herum und damit auch uns.

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Stefanie Jerz:
Das find ich nicht, aber es zeigt, wie unsinnig es ist, etwas zu wollen im Leben, oder?

lllllllllllllllllllllllll
Matthias Engels: 
Oh doch! Sehr gute Zusammenfassung des Gesamtwerks von Verfasser/Verfasserin XY!
Dennoch gilt auch dein Einwand, Stefanie! Mit den „Wünschen“ fängt doch das Dilemma und -laut Buddha- das ewige Leiden an!
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Hanna Scotti:
Braucht die Welt Gedichte, Dichter, uns Interpreten, Public Pads…….? Nein, ganz schlicht : nein

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Stefanie Jerz:
Doch und unbedingt: immer wieder, um uns zu zeigen, dass grundsätzlich alles in Frage steht.

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Hanna Scotti:
Diese Erkenntnis schmerzt, ist aber wahr.

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Stefanie Jerz:
Stimmt. Autsch!
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Hanna Scotti:
Rückwärts zählen ????- Das Brettl vor meinem Kopf ist angenagelt.
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Stefanie Jerz:
Genau so, liebe Hanna. Diese Hoffnung/oder Befürchtung, es möge vielleicht noch etwas passieren, das spüre ich auch 
Nach dem Versuch, die von Matthias so sadistisch   umsichtig und herausfordernd ausgewählten Zeilen an etwas festzumachen,  sind wir nun vom Selbst zum Außen, von der Langeweile zum Krieg, vom  Boxsport über Sesselpupsen einmal quer über und durch sämtliche Facetten  dieses kleinen Diamants gesurft.
Matthias gab jetzt noch einmal einen Tipp zur Fokussierung. Und für mich steht nun fest, dass es sich um eine Meditation zur Jahreswende handeln  muss. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Rückwärts  zählen wir kurz vor den Raketen am Sylvesterabend. Es passt alles…und  ich bin tief beeindruckt, wie der Verfasser schafft, einen so  bestimmten Text so offen zu lassen für unsere wilden  Interpretationen…das Geheimnis von Sprache, ich werd das nie verstehen…
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Sebastian Schmidt:
Nun stehe ich ganz am Ende dieses so schönen Hin und Hers, dessen leichter Ton über die tiefen Gedanken fast hinweggleiten lässt. Aber ich will erst einmal gar nicht so tief hinab, sondern unvermittelt hinein und die kontextuelle Struktur der Eröffnungsverse betrachten. Was viel zu kompliziert klingt, für das was folgt. Ich frage mich hier lediglich: Wie kann so eine Situation aussehen, in der „wir“ uns auszählen lassen können und in der die Reihenfolge des Auszählens überhaupt von Bedeutung ist. Am Anfang also wieder die Frage: Was haben wir eigentlich?
Zuerst das Wort: „auszählen“. Es bedeutet für mich so etwas wie eine Frist, nach der für jemanden irgendetwas endet, und auch, dass diese Frist durch einen anderen gesetzt wird.
Danach haben wir „auszählen“ als Verb. Wer zählt wen aus? Ausgezählt werden wir von einem, der die Befugnis dazu hat und der die Regeln kennt, nach denen er einen anderen auszählen kann. Im Sport ist das beispielsweise meist der Schiedsrichter oder das Schiedsgericht.
Dadurch kommen wir zum Bild. Wir haben ein Bild, in dem es zwei Parteien gibt, diejenige, welche den Regeln folgt (die sie eventuell selbst gemacht hat), und diejenige, welche diesen Regeln folgen soll. Hier bestimmt die eine Partei über die andere.
Doch nun zu den Besonderheiten im Bild, von denen es zwei gibt: Einmal ist es die, dass dieses Auszählen freiwillig erduldet wird „wir lassen uns … auszählen“. Denn es steht nicht dort „Wir werden ausgezählt“ oder „Wir haben keine andere Wahl, als uns auszählen zu lassen“. Die Schuld also, dass hier überhaupt eine Partei ausgezählt wird, dass über eine Partei gerichtet wird, die liegt auch an der schwächeren Seite selbst, an der Masse der sich nicht dagegen Auflehnenden.
Zweite Besonderheit: Hier wird jemand „rückwärts“ ausgezählt. Für das Ergebnis spielt die Richtung des Auszählens eigentlich keine Rolle, das Resultat ist gleich: Game over! Aber für das Gedicht, das mit den Bedeutungsebenen spielt, ist es von großer Bedeutung. Denn allein der Bezug von „Countdown“ und „großer Knall“ gibt dem Auszählen ein finales Moment, ein Moment, das einen Endpunkt darstellt, der nicht alles unverändert lässt, wie ein vorwärtsgerichtetes Auszählen es andeuten würde
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Das ist die Rohmasse, die sich nun ganz leicht zu etwas Sinnvollem, hoffe ich, verspachteln lässt; ein kurzer Deutungsversuch unter veränderten Vorzeichen: Das Gedicht eröffnet zwei Spannungsverhältnisse, einmal das zwischen den Auszählern und den Auzuzählenden; und dann, bisher auch etwas untergegangen, zwischen Wir und lyrischem Ich. Denn scheinbar ist es so, dass die Auszuzählenden nicht genug getan haben, um sich gegen das Ausgezähltwerden zu wehren, sie „lassen“ es geschehen. Dadurch entsteht ein Machtverhältnis.
Leidtragender dieses gekippten Verhältnisses ist das lyrische Ich, denn es kommt nicht gegen das Wir an, auch wenn es den „großen Knall“ sieht. Es ist so etwas wie der tragische Held. Und der hat die Situation im Blick, sieht die von Überproduktion „glühenden Schornsteine“ der Konsumindustrie und die Bevormundung (es muss nicht nur auf Deutschland bezogen werden!), aber er erkennt die Hilflosigkeit gegenüber denen, die sich gegen diese Auszählung, dieses Überwachtwerden und Einschänkenlassen nicht wehren.
Damit haben wir ein Muster, dass nur noch gefüllt werden braucht etwa mit tagesaktuellen Themen. Beispielsweise die Überwachung durch die NAS im Zeitalter nahezu unbegrenzter technischer Möglichkeiten, in dem ein ganz und gar untechnischer „Sessel“ schon so etwas wie eine zweite Heimat sein kann. Aber es muss nicht so aktuell sein, jegliche Überwachung, etwa in der DDR und in anderen Ländern, könnte in das Muster eingesetzt werden. Herauskommt, je nach Tagesaktualität, ein modernes Gedicht, das nach der Analyse zur Einsicht gelangt: Die Chacen sind vertan, wenn überhaupt folgt noch der „große Knall“. Davor im Sessel noch Goodbye zu sagen, „das wäre ein Glück“. Aber es ist kein Glück, dieser Zug ist abgefahren!
Das Bescheiden ist dann ein letzter Weg vor Abzweig Ende, wenn auch kein Ausweg: Im Auge behalten, was es ist, eine „Wüste“, aber darin eventuell zumindest noch die Oase zu suchen, den Wald, mag der aussehen, wie er will.
Man könnte weitergehen und die etwas eigenwillige Sprache vor diesem Gedankenkonstrukt zu beschauen, aber es soll bei dem Hinweis bleiben, dass es auch in ihr nicht mehr möglich scheint, sich der Zeit zuvor zuzuwenden, da die Sprache dadurch alt und unglaubwürdig wird, gleichzeitig aber auch zeigt, dass das Anschreien gegen die Masse nur noch in der Sprache der Masse selbst möglich ist: In der Sprache der Zeit, die jedoch auf den großen Knall zuhält. Ein Paradox, ein Irrgarten ohne Ausweg. Eine Mischung aus Resignation, Ironie, Trauer, Fatalismus und Pathos. Zusammengefasst also der Kern dessen, um was unsere Gedanken seit vielen Hundert Worten elektrisch zwirbeln.
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Matthias Engels:
Das war ein sehr sehr schönes Schlusswort, Sebastian, das ich auch einfach mal so stehenlassen will. Nur noch kurz einmal für die Akten:
Wer spricht sich für einen männlichen Verfasser aus? ( Bitte kurz begründen, wenn ihr könnt und es noch nicht getan habt)
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Hanna Scotti:
Ich denke, es ist ein männlicher Verfasser. Begründen kann ich es nicht wirklich. 
Mein Versuch weiter oben ist wohl nicht ganz ernst zu nehmen?
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Matthias Engels:
Sicher nehmen wir das Ernst und einfach mal als Fakt, Hanna! aber nur, weil du Sebastian und mich ausdrücklich ausnimmst! Nee nee, dieses Dichterbild, das du da zeichnest, ist ja nicht ganz unbekannt. Ob es hier zutrifft?-Schauen wir mal!l
Stefanie Jerz:
Absolut ernstzunehmen, liebe Hanna!!! Siehe oben in deinem letzten Text.
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Matthias Engels:
…und wer für einen weiblichen? 
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Stefanie Jerz:
ich bin nach wie vor für einen weiblichen Verfasser bei diesem Text. Warum, erwähnte ich anfangs ja. 
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Hanna Scotti:
Hier, bei euch fühle ich mich doch immer, immer wieder zu Hause. Dieses kreative Chaos. Welch eine Herausforderung, welche Freude. Stefanie, du hast recht, Dichter mit ihren dichten Gedichten sind mit Nichten (nein – nicht die zweibeinigen Nichten) überflüssig.
Und doch….so würden wir es gerne sehen, unsere eigene Wichtigkeit in Frage zu stellen, ist wie sterben.
Auch das möchte ich einsehen lernen: Alles dichten, kritisieren, backen, streiten, lieben, kopulieren, trinken, arbeiten, faulenzen, sch…….sind Beschäftigungen, um die Zeit zwischen Geburt und Tod rumzubringen, mehr nicht. In 10000 Jahren kennt vermutlich niemand mehr unseren Rilke und schon gar nicht uns (seufz).Ist das nun tröstlich oder entsetzlich? 
Unserem Dichter scheint das gleich – gültig im Sinne von gleich gültig , wozu sich dann noch die Frage nach Männlein oder Weiblein stellt?
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Sebastian Schmidt:
Ich enthalte mich mit voller Absicht einer Entschiedung, um welche Dichterin oder um welchen Dichter es sich handeln könnte. (Ich könnte auch keinen Verfasser und keine Verfasserin bennen, die für mich in Frage kämen.) Ich finde es zu schön, all diese Klischees in der Blindverkostung außen vor zu lassen. Hier spricht ein Text, mag er stammen, von wem er will. Solche Texte zu schaffen, braucht es besondere Menschen, alles andere ist mir unwichtig. Der Text steht, nachdem er geschaffen wurde, allein, denn er muss auch ganz allein für sich selbst reden. Das ist meine Vorstellung von Literatur, unabhängig von der Blindverkostung. Ich möchte mit dieser Einstellung hier und heute nicht brechen. (Das ist übrigens auch der Grund, warum ich nicht direkt auf den Titel eingehe, für mich sind Titel eine Einmischung des Autors in und vor den Text, das mag gut oder schlecht sein, aber ich mag es nicht sonderlich, zumindest nicht bei Gedichten.)
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Matthias Engels:
Damit steht es eins zu eins, bei einer Enthaltung!-
Letztlich, was die Qualität und die Wirkung eines Textes angeht, ist das Geschlecht des Verfassers ja völlig irrelevant. Dennoch finde ich die Frage spannend, ob man es herauslesen KANN! Für alles gibt es ja mittlerweile Beispiele: für besonders feminin schreibende Herren und bewußt maskulin formulierende Damen. Man wird also nichts pauschalisieren können-aber genau das ist auch Teil des Reizes dieser Frage, die ich immer wieder stelle. Gibt es „weibliche“ Themen oder „männliche“ Begriffe? -Nein, oder besser, es mag sie geben, aber sie stehen BEIDERLEI Geschlecht als Material zur Verfügung. Hier könnte man sicher eine neue Diskussion starten, was wir aber vorläufig erstmal vertagen wollen.
Stefanie Jerz:
Das stimmt absolut, dass sich das alles glücklicherweise miteinander vermischt. Ist letztendlich bei mir auch immer nur Gefühlssache, ob ich meine, da ein Geschlecht zuordnen zu können…oder zu müssen.
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Matthias Engels:
Jetzt haben wir an Form, Inhalt, Interpretation und möglichem Entstehungsdatum herumgebastelt und haben uns manchem angenähert, anderes umschifft und sicher jede Menge ausgelassen und vergessen! 
Bevor ich euch jetzt aber noch raten lasse, ob der Verfasser möglicherweise bei der Niederschrift des Textes einen Schnupfen hatte oder Liebeskummer, ob es eher im März oder vielleicht doch im August verfasst wurde, will ich euch nicht länger auf die Folter spannen und euch Herkunft, Verfasser und Entstehungszeit verraten:
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Buddha bei die Fische!

Eine Rückschau beim Herunterzählen der Sekunden vor dem Jahreswechsel? Schlaglichter kommen ins Gedächtnis, überlagern sich….
„War das im Frühling? Nein, im Sommer! Ich weiß noch, als dies und das geschah, da machte ich gerade….“
Beamen wir uns mittels modernster Technik einmal zurück zum Jahreswechsel 1986/87.
Was da an großen und kleinen Ereignissen allein aus der ersten Hälfte des Jahres zusammenkommt, liest sich ein Stück weit wie ein Strickmuster für den Text, den Stefanie, Hanna, Sebastian und ich heute ohne diesen zeitgeschichtlichen Kontext zu kennen, verwurstet haben:

Helmut Kohl ist Bundeskanzler (und wird es noch lange bleiben)
Deutschland unterliegt im WM-Finale Argentien mit 2:3.
Die meisten Eltern nennen ihre Kinder Julia oder Alexander.
1000 Menschen sterben bei einem Erdbeben in San Salvador.
Mike Tyson wird nach K.O.-Sieg in der 2. Runde über Trevor Berbick mit 20 Jahren jüngster Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten
Michail Gorbatschow fordert erstmals Glasnost.
Die US-Raumfähre Challenger bricht kurz nach dem Start auseinander. Alle sieben Astronauten kommen ums Leben.
Der Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, sein Chauffeur Eckhard Groppler und der deutsche Diplomat Gerold von Braunmühl werden durch einen Bombenanschlag der RAF getötet.
Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl.
In Berlin schreibt der 34jährige Germanist und Autor Hans Ulrich Treichel sein Gedicht: Rückwärts.

…wir lassen uns rückwärts auszählen, der Himmel ist trüb, die Schornsteine glühen, aus dem Sessel kippen vor dem großen Knall….

treichelHans Ulrich Treichel, 1952 im westfälischen Versmold geboren, zählt zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren.
Promoviert über Wolfgang Koeppen begann der Germanist in den späten 70er und frühen 80er Jahren als Lyriker seine Autorenlaufbahn. Einige Gedichtbände erschienen seit 1979. Jedoch  wandte sich Treichel in den 90er Jahren auch der Prosa zu und schuf mit dem autobiographischen Roman Der Verlorene eines der meist übersetzten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur.
Der Autor thematisiert hier seine Kindheit als Spross von Eltern, die als Vertriebene aus den Ostgebieten in Westfalen gestrandet waren. Der Schatten des auf der Flucht verlorenen älteren Bruders lastet auf ihnen und auch dem erst nach dem Krieg geborenen Ich-Erzähler. Seine Heimat Ostwestfalen (dem merkwürdigen Namen für ein Irgendwo/Nirgendwo) ist dem heranwachsenden Anti-Helden sein eigenes, privates Sibirien, denn der Osten, aus dem die Familie stammt, ist irgendwie Russland und noch östlicher ist dann ja nur noch Sibirien…
Diese unwirtliche und emotional kalte Umgebung verließ Treichel allerdings recht bald, ging nach Berlin, wo er viele Jahre lebte. Er lehrt seit 1995 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und verkörpert m.E. in vielerlei Hinsicht mittlerweile so etwas wie eine gesamtdeutsche Autoren-Biographie und hat sich schon früh und seitdem dauerhaft mit Fragen wie einer deutschen Identität befasst.

Seine Lyrik ist schmucklos, einfach, oft mit einem (selbst-)ironischen Unterton ausgestattet. Virtuos kann Treichel darin zwischen der abgeklärten Sachlichkeit eines Dr. Benn und dem klugen Hinterfragen des Status Quo im Stile eines Bert Brecht hin- und herwechseln. Ein leiser Humor und ein zaghaftes dennoch ziehen sich sowohl durch seine lyrischen als auch durch seine erzählerischen Werke. Und: Pathos ist seine Sache nicht, dafür die Langeweile. Niemand dekliniert so viruos, so konsequent und so unterhaltsam die ewigen, eintönigen Widerholungen des Lebens im Kleinen durch.

Das Gedicht, das ich euch vorlegte: -Rückwärts- stammt aus und ist zitiert nach seinem 1986 erschienenen Band -Liebe Not-
Suhrkamp 1986
ISBN:
978-3518113738

Jetzt könnte man einen solchen Jahresrückblick mit den verlässlich stattfindenden, regelmäßigen Katastrophen eigentlich zu jedem Silvester schreiben- dennoch kommt hier ja noch die Facette des sich bescheidens ins Spiel, das ihr ganz richtig erkannt habt. Allerdings nicht unter völliger Ausklammerung des Fragezeichens, das dahintersteht. Ich höre es in den letzten beiden Zeilen recht deutlich: ist es so? Ist dem, der sich mit seinem gemütlichen Jahreswechsel-Fest bei Fondue und Sekt zufrieden gibt, wirklich die Wüste ein Wald -angesichts im- und explodierender Technikträume, Naturkatastrophen und wunschlosem Unglück? Können wir schon zufrieden sein, wenn in unserem Land, in unseren kleinen Verhältnissen Ruhe herrscht, wenn sie denn auch an Langeweile grenzt? Ein warmer Ofen in den eigenen vier Wänden? Kein Krieg vor der Haustür und der große Knall weit genug entfernt, um hier lediglich als kleines Puff hörbar zu werden….?

Ich danke herzlichst meinen drei Probanden. Ohne ihre Bereitschaft, sich gehörig den Mund zu verbrennen und eventuell völlig blind herumzutapsen, wäre diese Folge nicht zustande gekommen! Sie haben ihre Aufgabe mit Bravour bestanden, finde ich!

Die letzten Worte dieser XXL-Folge -Blindverkostung- soll aber den fleißigen Verkostern gehören! Hat`s geschmeckt?

Hanna Scotti:
Danke für die Auflösung. Uffff, jetzt entweicht  langsam die Spannung, Ich lehne mich zufrieden zurück. Ein entzückend – virtuoses Werk ist entstanden. Und so stringend logisch am Dichter langgedacht, lach. Was Lyrik in mir auslöst, berührt mich immer wieder tief und die feine Zusammenarbeit mit euch, einfach so, beweist, dass sie eine besondere Nähe zwischen Menschen schaffen kann, weit über das alltägliche Maß hinaus. Straft das nicht den Tenor des Gedichts Lügen? Aber das zu klären ist eine neue Aufgabe.
lllllll
Sebastian Schmidt:
Den Fuß auf dem Schlauch, zumindest ein wenig. Zuerst aber einmal vielen Dank fürs Auflösen, Matthias, und die super Gelgenheit, hier so ein schönes Gespräch mit dir und den anderen Teilnehmern führen zu dürfen.
Ich hatte wohl ein wenig den Blick zu weit in der Ferne, denn mir ist es nicht so recht in den Sinn gekommen, dass dieses Auszählen auch ganz naheliegend zum Sylvesterabend gehören könnte. – Da hat man es wieder, dass einen die Gedanken doch machmal recht weit weg tragen, wenn sie so dahinflattern. Aber natürlich scheint das jetzt nach der Auflösung alles einleuchtender!
Die größte Erfahrung, die ich in diesem Gespräch gewinnen konnte, ist die: Wenn man die Texte ganz allein für sich hernimmt, dann zeigt sich, wie stark die Worte wirken können und wie manchmal auch die „richtige“, zumindest die zeitlich richtig eingeordnete Lesart, ein Stückchen hindert, den Deutungsspielraum in seiner Breite aufzufassen. Aber den einzufangen, das ist uns in der Blindverkostung hoffentlich ein kleines Stück weit gelungen.
Es war eine unglaubliche Reise entlang eines geistreich gestalteten Gedichtes; das dennoch nicht zu meinen Lieblingsgedichten werden wird. So weit muss ich dann auch ehrlich sein, aber das ist eher den ganz persönlichen Vorlieben geschuldet. Jedoch die Kunstfertigkeit, die ist natürlich keinesfalls in Abrede zu stellen und bewundernswert. Wohl dem, der solche Verse machen kann – und wohl dem, der die Gelegenheit hat, mit so reizenden Menschen über Lyrik zu sprechen. Vielen Dank!
llllllllll
Stefanie Jerz:
Zwei Gefühle habe ich gerade zur Auflösung: einerseits bin ich ein wenig traurig den Dichter der besprochenen Verse nicht erkannt, ja nicht mal gekannt zu haben bisher. Aber andererseits bin ich froh und stolz darüber, was uns hier alles zu diesen wenigen Sätzen eingefallen ist.
Ganz besonders glücklich aber macht mich, dass ich wieder einmal erleben durfte, wie Lyrik imstande ist, die Gedankenwelt von Menschen zu öffnen! Romane, Dramen, Filme…alle anderen Genres für die man schreiben kann geben Richtung vor und lassen höchstens Interpretationsspielraum zu. Dichtung aber erschließt, berührt und entfacht – vorausgesetzt sie ist handwerklich gut gezimmert – ganze Welten im Leser. Deshalb liebe ich sie so.
Danke dir herzlich für diese Gelegenheit, Matthias, und dafür dass du uns hier so sanft, aber konzentriert durchgeführt hast! Von der Einladung auf diese komfortable Plattform ganz zu schweigen. Und auch an Hanna und Sebastian ein ganz inniges Dankeschön. Ich fand toll, wie wir uns hier die Bälle zugeworfen haben, ohne das jemand einen davon vor den Kopf bekommen hat.
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stempeljudith

Judith Fallerfaller, geboren am 13. April 1960 in St. Gallen. Lebt und schreibt zur Zeit in Winterthur.

Sie absolvierte eine pädagogische Erstausbildung (Arbeit mit diversen Altersstufen) und arbeitete als freie Journalistin bei einer Tageszeitung über: Kunst – Kultur – und Frauenthemen. Weiterhin verfügt Judith über verschiedene Körpertherapieausbildungen, darunter Kunst-und Audruckstherapie. Vielen Jahre arbeitete sie in Psychiatrischen Kliniken. Zuletzt auf einer Borderlinestation mit jungen Erwachsenen.

Bibliographie:

Lyrikband Wachstumsschmerzen, März 2012. Zweitauflage im September 2012.

fallerbuchVeröffentlichungen von  Gedichten, Texten und Kurzgeschichten in literarischen Zeitschriften oder OnlineLiteraturPortalen.

Diverse Rezensionen und einiges mehr sind auf Judiths Website zu lesen: http://www.judith-faller.ch/

Mehr über die Autorin gibt es außerdem hier:
http://www.autorinnenvereinigung.eu/
http://www.femscript.ch/
https://www.facebook.com/pages/Faller-Judith-Wachstumsschmerzen/264775616987171

Ich schätze Judith seit einiger Zeit für ihre Gedichte, ihren tollen, oft skurrilen Humor und Wortwitz und für die Begeisterungsfhigkeit, mit der sie an ihre jeweiligen Projekte herangeht. Zur Zeit arbeitet Judith Faller an einem neuen Lyrikband, Kurzgeschichten, einer Erzählung und anderen grösseren Projekten. Neue Veröffentlichungen kommen bald! Umso mehr freue ich mich, dass sie Zeit für dieses kleine Experiment gefunden hat. Danke dafür!

Hier nun der Text, den ich Judith vorlegte:

text judith

und: was ihr dazu einfiel:

Stimme im Dunkel

Ein „heiteres“ Paar habe ich da angetroffen, mehrere Paare sogar. Eine Aufgabe, die sich zusammenfügt aus Blind-Verkostung und Stimme im Dunkel. Schon diese Gemeinsamkeit verdient eine Würdigung, sei sie auch nur zufällig entstanden. Wer sucht der findet.

So soll ich mich also blind auf den Weg durch ein Labyrinth begeben, in welcher mir die Stimme unbekannt und ferne liegt. Ich tue es, ganz assoziativ!

Entdecke eine Stimme, die nicht zu hören, höchstens zu erahnen ist. Denn es gibt sie nicht. Und deshalb wird sie nie im Chor zu hören sein. Sie bleibt für immer ein einsamer Sänger, ein Solist, der uns Lebendiges entreisst und zugleich an seiner eigenen Einsamkeit erstickt. Wir geben ihr eine Stimme, weil wir dies Unerträgliche des Nichtseins nur ertragen, indem wir ihr Gestalt und Stimme geben, sie uns angleichen. Eine mystische Mitteilung an uns Lebende, indem wir ihr eine Botschaft in den nicht vorhandenen Mund legen. Der Name Shakespeare lässt meinen eigenen Mund trocken werden, der Thematik im Gedicht erinnert mich an die Dramatik in Zeiten der Romantik, also in etwa im 16. /17. Jahrhundert. Ich finde in diesem Gedicht all das, was mir so gar nicht zusagt, mich nicht in hineinzieht in die Art des Ausdruckes.

Zu dramatisch für mich, zu theatralisch, zu blutrünstig, wenn auch das Blut und alles andere nur in meiner eigenen Fantasie zu sehen sind! Gut möglich, dass es lediglich durch die Andeutung von hinter den Worten liegender Dramatik auf eine völlig andere Zeit hinweist, und nur mein eigenes Herz in der alten Zeiten dort weilt…

Die erwähnte Monstranz, und somit die symbolische Einbindung der katholischen Kirche in meinem vorliegenden Text, dem Auftauchen des Herzens Jesu, dargestellt als aufgerissenes und blutrotes Herz im reinen Gewand, sehen wir im Staube liegend. Ein Symbol für Respektlosigkeit oder wiederum dem der Vernichtung und der Auflösung? Hinter Glas wird manchmal in einer Monstranz das gemalte Herz festgehalten, in einem tragbaren Gefäss aus Metall oder Olivenholz, wohl, dass es nicht davonfliege in seinem Wunsch nach lebendig sein. Womit auch das  Bild der Auferstehung für einen Moment darin aufblitzt. Bis dato werden diese Monstranzen auch in der griechisch orthodoxen Kirche als Symbol des Lebens und Sterbens Christi in den meisten Kirchen nahe des Einganges aufgestellt, damit ein Jeder, der die heiligen Hallen betrete, diese in Ehrfurcht und tiefer Liebe küssen möge. (Die Bakterien die sich dadurch unter den Menschen verteilen, seien eine Metapher für sich, die jedoch bis zum Tode führen kann.)

Der in meinen Augen gesichtslose Tod im dunklen Gewand, der Fährmann,  an der Seite der Schiffe dargestellt die uns hinüber geleiten sollen, wurde zum Unbekannten, Namenlosen, Stimmlosen, der in seiner eigenen Einsamkeit nie ein festes Ufer erreichen kann. Durch die Unendlichkeit, dem nie Endenden führt sein Kommen und Gehen, gerade so, wie auch Sisyphos, dem Listigen, Schlauen, Schalkhaften aus der griechischen Mythologie, der den Göttern auf den Putz haute, und dem Todesgott Thanatos ein Schnippchen schlug, ihn fesselte und dadurch den armen Toten wohl den Zugang zum Hades verunmöglichte.

Ich finde mich nun selber mit einer altbackenen Sprache in verschiedenen Zeitaltern und ihrer Symbolik wieder, wie ich versuche, meinen Assoziationen nach zu schwimmen, die mir davon schwimmen, wie die Felle auf dem Fluss des Vergehens, und bleibe bei Themen, die den meisten von uns Zeit unseres Lebens Angst und Ungemach bereiten, stecken. Denn nie gerät der Mensch mehr an seine Grenzen als dann, wenn er nicht fassen kann, was unfassbar bleiben soll. Die Auflösung der Gestalt, der Stimme des Menschen, des Lebens an sich. Dem Tode, der auch als Schlafes Bruder, mit verwelkten Blumen am Herzen des Lebens darnieder liegen muss.

Zwischen Katholizismus und Schlacht befinde ich mich, so zumindest erlebe ich es gerade. Da wird der Tod zu einer eigenständigen, einsamen Figur, er liegt der Nacht zur Seite, der einzigen Dunkelheit, die ihm selber mehr als bekannt, und die ihm nahe ist. Im ersten Moment dachte ich sogar an Schlafes Bruder, welcher somit die Brücke durch die Zeiten, ins Heute schlagen würde.

Fazit für mich: So wie dem Tode die Hand des Lebens entgleitet, entgleiten muss, weil das Paradoxe, das Werden und Vergehen nicht aufgehoben werden kann, entgleitet mir das Gedicht, welches mich abstösst und anzieht in einem.

Ich habe keine Ahnung, wer es geschrieben hat!

Mein Kommentar:hand_feder_04

Stellen wir uns also einen jungen Helden mit Halskrause vor, der am Bühnenrand die Hand auf die Brust legt und mit sehnsuchtsvollem Blick ins Nichts folgende Zeilen deklamiert:

“Oh, so alone with me am I!
The night calls me brother for my dress is dark.
All roses are withered at my chest.
The barges draw to red horizons without me;
never my voice drunk wirh songs
my hand is screaming into a swoon for an other.

Shakespeare?- Denkbar?-Warum nicht?!
Was jedoch auffällt, ist die dann doch etwas zu moderne Metrik und der Verzicht auf Reime-überhaupt: die zu freie Form.
Könnte man es mit einer modernen Übersetzung zu tun haben, die sich diese Freiheiten nimmt, etwa wie die, die Helmut Krausser kürzlich von den Sonetten von Old-Willie-Boy vorgelegt hat?- Erneut: denkbar!
Eine interessante Assoziation, die Judith da äußert! Da auch Shakespeare die “großen” menschlichen Regungen und Triebe thematisiert: Liebe, Neid, Tod, etc., ist dieser Text mit seinen Todes- und Schmerzmotiven viellecht gar nicht soo weit davon entfernt.

Dennoch, wie gesagt: etwas mit der Form stimmt da nicht.
Auf den ersten Blick wirkt das Ganze recht klassisch. Wir haben Strophen, wir haben Verse von ähnlicher Länge-
aber allein mit dem Blick auf die Zeilenenden stellen wir fest, dass hier kein Reim stattfindet, sogar eher klangliche Dissonanzen benutzt werden.
Nun gut, kann man sagen, den Endreim warf man in Europa auch schon ca. 1870 über Bord!. Dennoch hielten sich klassische Formen und Reim noch ausgeprochen widerstandsfähig bis in die 50er Jahre und darüber hinaus. (Man sehe sich nur mal die ganzen klassichen Sonettkränze an, die in Internet-Dichter-Foren geflochten werden.)

Da ist also zeitlich nicht viel herauszuholen. Auch die schon erwähnten “archaischen” Gefühle des lyrischen Ichs lassen keine Rückschlüsse auf die Entstehungszeit zu, denn geliebt und gelitten hat wohl auch schon unser breitstirniger Freund Homo Neandertalensis. Keine Geschirrspülmaschine, kein Zebrastreifen, kein Zeitgeist irgendeiner Form lassen hier irgendetwas eingrenzen.

Wenden wir uns näher dem Inhalt zu. Was haben wir denn hier? Wenn es um ein ICH und ein DU geht, liegt meist ein Liebesgedicht ziemlich nah. Das ist hier der Fall, wenn auch das DU erst in der letzten Zeile auftaucht. Aber davor?- da ist man einsam, da ist alles dunkel, die Rosen welk und die Kähne an die roten Horizonte sind schon wieder ohne Einen abgefahren! Gelitten wird da- einsam und deutlich.
Mir fällt plötzlich auf, dass es gar nicht zwingend ein Liebesgedicht sein muss. Es könnte auch einfach einen Menschen, sprechend aus einem irgendwie gearteten Dunkel, darstellen könnte. Der Knackpunkt wäre dann allerdings das DU. Wer sollte es dann sein, wenn kein Geliebter, der nicht wiederliebt? In vielen Gedichten dieser intensiven Art fiel mir schon auf, dass man den Begriff Liebe recht oft und einfach durch Gott ersetzen könnte- eine höchste Instanz gegen die Andere. Die Monstranz im letzten Abschnitt rückt den Text ja in die Nähe der Religion…

Judith spürt sehr stark die düsteren Elemente dieses Textes, riecht sogar Blut, wo eigentlich gar keines vorkommt. Aber es stimmt schon: Der Verfasser/die Verfasserin dieses Textes legt da so ein paar Spuren: die Rosen, die ja bekantlich gern im Märchen oder in der Realität mit ihren Dornen kleine rote Tropfen produzieren; (man stelle sich mal einen üppigen Rosenstrauß vor, gepresst an eine nackte Brust..)  die Kähne liest Judith zu Recht auch als Barke über den Fluß ins Jenseits und spätestens das Herz provoziert ein blutiges Bild- ist es doch die “Schaltzentrale” unseres Blutkreislaufes. Dieses dann herausgeschnitten (z.B. als Beweis für die Königin, dass Schneewittchen wirklich starb), ist definitiv eine blutige Angelegenheit und ein Akt der Gewalt.
Vanitas-Motive, wo man hinsieht und Judith erkennt sie richtig als oft beinahe archetypische Symbole:
Ein dunkles Kleid- man geht in Trauer
Die Nacht –die Romantiker sahen hier die Zeit für alles Dunkle, auch im Menschen
Welke Rosen
Die Kähne-  einmal Jenseits, einfache Fahrt
und dann die Monstranz. Ein christliches Motiv. Von lat. monstrare “zeigen”. Etwas, was man herzeigt, offenlegt, zur Verehrung öffentlich macht. Wer würde sein Herz (den Sitz der Gefühle) freimütig zur Schau stellen?- Der Liebende!
Und was geschieht damit? Es liegt im Staub, vor den Füßen des DU. Des Angebeteten? Weist hier Jemand das Allerheiligste zurück, das ihm geboten wurde? Ich denke, dahin geht die Reise wohl. Verschmähte Liebe.

Freude gibt es hier nicht. Gesungen wird nicht; die Blumen sind verblüht- einzig die roten Horizonte versprechen etwas, aber der Kahn hat ja schon abgelegt. Man ist jetzt allein und einzig: Bruder der Nacht.

Ein (recht simples?) Liebesgedicht trauriger Art? -Ja, vielleicht!
Dennoch finde ich, sollte die Gestaltung noch einmal geprüft werden.
Es sind schon ziemlich “heftige” Bilder, die hier verwendet werden und die Judith verständlicherweise sogar etwas abgestoßen haben.
Da wird in Ohnmacht geschrieen, da ist viel Tod und Schmerz, endend mit einem (zwar nur bildlich, aber dennoch:) herausgerissenem Herzen!

Schon ein wenig extrem, schon ein wenig morbide. Der Liebesschmerz mag derart heftige Emotionen rechtfertigen, doch sie geben in ihrer Darstellung auch einen Hinweis auf die Epoche, aus dem das Gedicht stammt.
Heute mögen uns Metaphern wie “schreiende Hände” und Sätze wie “die Nacht nennt mich Bruder” nicht mehr allzu mutig erscheinen- in seiner Zeit jedoch war dies durchaus ein typisches und modernes Gedicht. Das Pathos vieler älterer Texte stößt uns heute oft etwas ab- ich habe mir angewöhnt, diese Art Text für mich nüchtern zu lesen und oft ist die Wirkung dann ganz anders.
Der Schrei der Hand könnte schon ein Indiz sein. Sturz und Schrei, so ist ein Kapitel aus Kurt Pinthus` Menschheitsdämmerung überschrieben, dem ersten Manifest des Expressionismus.
Der Sturm, der rote Hahn, die Aktion: so hießen die literarischen Zeitschriften dieser Zeit von etwa 1910 bis 1925 und Else Lasker-Schüler schrieb: “es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär”
Auch ein wenig Herzeleid, auch ein wenig Christentum, auch Tod, auch Trauer. Eigentlich keine gewagte Form, eigentlich kein gewagtes Vokabular- aber sehr sehr ausdrucksstark.- Und genau in diese Zeit fällt die Entstehung dieses Textes.

Von der Verfasserin (hätte Jemand daran gezweifelt, dass es von einer Frau stammt?) ist leider nicht allzu viel bekannt, daher fallen die großen autobiographischen Bezüge dieses Mal zwangsläufig aus.
Von Elisabeth Joest weiß man mit 1893 genau ein Geburts- aber z.B. kein Sterbedatum.
Um 1920 herum erschienen einige ihrer Gedichte in Zeitschriften und einige wenige Bücher mit Novellen, vornehmlich im Georg Müller Verlag in München. Sie zählt leider nicht zu den großen Namen ihrer Epoche, aber das ging vielen Frauen dieser Zeit so. In der Regel waren ihre Texte eine kleine Spur leiser als die Leichenschauhauslyrik des Dr.Benn oder die leicht kabarettistischen des Jakob van Hoddis. Man musste als Frau schon die Verbindungen und das Auftreten der großen Lasker-Schüler haben, um ähnlich wahrgenommen zu werden.Wenn dann, vor der Zeit der Geburtenkontrolle, noch ein Kind dazukam oder -wie so oft-  ein dominanterer Mann, griffen dann, bei aller Boheme, die Bindungen der Geschlechterrollen doch.  Es gibt eine Menge von Autorinnen dieser Zeit, die leider fast nur noch als “Anhängsel” der “größeren” Männer in den Literaturgeschichten auftauchen. Emmy Ball-Hennigs ist: die Frau von Hugo Ball, Lola Landau: die Geliebte von Armin T.Wegener, Claire Goll: die Frau von Yvan Goll usw… . Oftmals jedoch bereicherten diese Autorinnen die Literatur ihrer Zeit um neue, “weibliche” Tonfälle und Bilder. Elisabeth Joest ist dafür ein gutes Beispiel, wie ich finde und sicher eine Beschäftigung wert.

In der wunderbaren Anthologie “In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod” hat Hartmut Vollmer  die Texte dieser Frauen gesammelt und zum Teil vor dem endgültigen Vergessen gerettet. Von kaum einer dieser Autorinnen gibt es lieferbare Einzelbände.
Manche, wie Elisabeth Joest, haben nicht einmal ein Sterbedatum!

Sicherlich ist dieser Text nicht DAS Gedicht seiner Epoche, aber durch seinen Hintergrund und seine Gestaltung dennoch eine Betrachtung wert.

Vielen Dank, Judith Faller, für diese wunderbare Folge!

Die vergangenen Folgen der -Blindverkostung- findet man hier:

Folge 1 mit Jost RennerFolge 2 mit Thyra Thorn
Folge 3 mit Anke Laufer
Folge 4 mit Paul Fehm
Folge 5 mit Hanna Scotti
Folge 6 mit Arnd Dünnebacke
Folge 7 mit Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
Folge 8 mit Werner Weimar- Mazur

der Text dieser Folge ist zitiert nach:

In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu TodLyrik expressionistischer Lyrikerinnen
Herausgeber: Hartmut Vollmer, Igel Verlag, Hamburg 2011
ISBN 9783868155266

werner schild

BildWerner Weimar-Mazur wurde 1955 in Weimar geboren und wuchs in Karlsruhe auf.
Der studierte Geologe lebt, nach einigen Jahren in der Schweiz, seit 1992 im Raum Freiburg und schreibt seit seinem fünfzehnten Lebensjahr Gedichte und Prosa.

Ich schätze Werner Weimar-Mazurs scheinbar lakonische Gedichte, in denen immer ein warmer und kluger Blick auf die Dinge vorherrscht. Werners ausführliche Beschäftigung mit den literarischen Vorbildern hat ihm ein sehr sicheres und vielschichtiges Handwerkszeug verschafft. Eher leise und präzise spricht der Lyriker Weimar-Mazur. Eher von den kleinen Dingen, in denen oft genug Größeres schlummert.

Werner ist Mitglied im Literaturforum Südwest e.V., Freiburg (Literaturbüro Freiburg) und bei keinVerlag e.V., Erlangen
Derzeit arbeitet Werner an einem Roman, auf den ich sehr gespannt bin.

Werner Weimar-Mazur ist Preisträger des Athmer-Lyrikpreises 2013 und des Hildesheimer Lyrik-Wettbewerbs 2012 sowie Teilnehmer der ersten Lesung des Lyrikpreises München 2013 .
Mehr über Werner, seine Texte und Tätigkeiten findet man hier: www.weimar-mazur.de

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Hier der Text, den ich Werner zur Blindverkostung vorlegte:

werner text

und: Was ihm dazu einfiel

Matthias, da ist Dir ja was Feines gelungen, gleich in doppelter Hinsicht: Mich zum Mitmachen überredet zu haben, und mir einen Mord an einem Indianer zu präsentieren, wenn ich den Titel des Gedichtes mal wörtlich nehme (wörtlich nehmen ist bei Literatur immer ein guter Ansatz)!

Wie sage ich mir oft: Mehr als schief gehen kann es nicht, und wenn, ist auch nichts Schlimmes passiert! Nun denn!

Das Ganze hier erinnert mich irgendwie an meine Schulzeit: Gedichte interpretieren habe ich immer gehasst. Heute bin ich überhaupt der Meinung, ein Gedicht zu interpretieren, ist völlig daneben. Und heute weiß ich: Gedichte interpretiert man nicht, deutet sie nicht, man empfindet dabei, und erinnert.

Noch besser ist es, das Gedicht für sich selbst sprechen zu lassen. Wozu hätte es der Autor / die Autorin sonst geschrieben? Für mich wohl? Oder für seinen Indianerbruder. Damit aber endlich zum Text, ganz spontan und unsortiert, wie es meine Art ist, und was mir gestern abend vor dem zu Bett gehen dazu eingefallen ist, nachdem ich noch schnell in meinem „Kleinen Leitfaden für Gedichtinterpretation“ nachgeschaut habe, wie man so etwas angeht (Stichworte: Thema, Titel, Form, Sprache, Inhalt, Fazit).

Indianer. Dazu fällt mir natürlich sofort Karl May ein (wem nicht?), Winnetou und Old Shatterhand, die ewigen Blutsbrüder. Welcher Junge träumt nicht „Vom Wunsch, Indianer zu werden“, womit ich bei Franz Kafka und seiner kleinen, eindrücklichen Prosa dazu angekommen bin, den Büffelherden, dem Gras der Prärie, ein Reiter schief auf dem Pferd, alle sind schon lange nicht mehr.

Und dann schon sofort Kain und Abel. Das Motiv des Brudermordes: Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Vielleicht in Fischerstiefeln im Uferschilf des Zweistromlandes? Ein uraltes Motiv, das bis weit vor den Beginn der Zeit zurück reicht.

Und auf einmal wird das Gedicht fast erotisch (sogar homoerotisch???). Die umschlingenden Brombeersträucher (erinnern mich an irgend jemanden, ich komme nicht drauf), der Würgegriff, die Hingabe, mehr Schmerz als Liebe, unstillbares Verlangen, Bedingungslosigkeit.

Ein christlich-mystifizierter Sakralmord / Ritualmord, der nicht sein darf und doch sein muss, eine Befreiung!

Die Schuhe Petrus tauchen als Motiv auf. Und das Opfer liebt seinen Mörder (jedenfalls aus der Sicht des Mörders, des Lyrischen Ichs).

Überhaupt scheint mir das zentrale Thema des Gedichtes die Frage nach Schuld / Verlust der Unschuld zu sein, und: der Wunsch / die Sehnsucht nach Vergebung, nach Gnade. Ja, das ist für mich der Kern in diesem Text.

Der Autor, die Autorin? Keine Ahnung. Die Zeit? Vielleicht so 1950er / frühe 1960er Jahre vom ganzen Sprachduktus, vom Ton und der Machart her? Oder doch nicht! Ich bin gespannt.

 Danke, lieber Matthias für das anregende Gedicht in der Blindverkostung, eine höchst interessante Erfahrung und, ich habe gerne mitgemacht. Tolle Idee, tolle Bibliothek!

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Mein Kommentar:

Ich danke Werner für diese schöne Folge! Eine gute Idee, noch einmal einen Blick in einen Interpretationsleitfaden zu tun, den er sicher gar nicht nötig gehabt hätte. Wie sicher er hier die anklingenden Motive und mitschwingenden Assoziationen erkennt, zeigt, wie gut Werner in den Epochen zu Hause ist.

Der Indianer ruft, neben Karl May und Kafka, sofort den Blutsbruder herbei, womit eine gute Spur gelegt ist.
Aber: BRUDER- da sind wir im christlichen Abendland gleich bei Kain und Abel und tatsächlich haben wir ja einen Brudermord in unserem kleinen Gedicht. Noch mehr christliches fließt hier ein: z.B. mit den Stiefeln im Wasser (Petrus/der Menschenfischer) und ich denke auch an den heiligen Christopherus, der das Jesuskind über den Fluss trägt, an die Taufe im Fluss. UND:Vergebung und Gnade, die von Werner erkannten Themen sind ja durchaus Bestandteile der christlichen Themenwelt.

Weiter: Täter und Opfer lieben sich. Vielleicht denkt Werner bei den Brombeersträuchern an Villons Erdbeeren etc.? Tatsächlich sind Beeren und Früchte ja -nicht nur bei Villon- ein erotisches Motiv (man schaue mal mit Sinn und Verstand Werbung oder Filme). Die Dornen so manches Beerenstrauches bringen die schmerzhafte Komponente der Erotik ins Spiel. Ein Liebesverhältnis a) unter Brüdern, b) nicht ohne Gewalt. Sogar zum Tod führt diese Liebe. Der paradoxe „Würgegriff der Hingabe“ ist hier sicher die zentrale Beschreibung dieser schmerzlichen Liebe.

Aber: wer wird jetzt hier geliebt? Wer ist der Indianerbruder?
Werner sieht es auch: der Indianer ist für viele Jungs ein Kindheitsbegleiter, sei es durch Karl May oder nicht. Man spielt Cowboy und Indianer und der amerikanische Ureinwohner verkörpert Wildheit, Freiheit und Verwegenheit. Verwurzelt in der Natur, verankert in seinem Stamm und seiner Familie, urwüchsig und stark. Ein kraftvolles Identifikationsangebot. Blutsbrüderschaft kann man mit engen Freunden schließen, aber hier ist der enge Verwandte meines Erachtens jemand anderes.

ICH. ICH, das Kind, der kindliche Teil meiner Selbst, der frei, stark und undomestiziert durch die weite Welt der Kindheit schritt und unweigerlich irgendwann starb, vielleicht von mir selbst zu Tode gebracht. Erwachsen werden ist von vielen Kämpfen begleitet, die meisten davon muss man mit sich selbst austragen und etwas bleibt auf der Strecke. Ein Teil von Einem überlebt das nicht.

Vielleicht ist das das Kernthema in unserem kleinen Gedicht mit seinen zum Ende hin immer kürzeren, gehetzten Zeilen.

Formal ist es sicher schwer einem Geschlecht oder einer Zeit zuzuordnen. Tatsächlich stammt es aus dem Jahr 1980 und aus dem Debütband „Aufstehen und Gehen“ unseres heutigen Autors:

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eich-140x140Clemens Eich, (22. Mai 1954 Rosenheim- 22. Februar 1998 Wien), hatte als Sohn von Günter Eich und Ilse Aichinger, dem beiden großen Autoren der Nachkriegszeit, vielleicht die Literatur in die Wiege gelegt bekommen. Er wuchs in der Nähe von Salzburg auf und besuchte von 1971 bis 1974 eine Schauspielschule in Zürich. Von 1974 bis 1979 arbeitete er als Schauspieler in Landshut, am Theater in der Josefstadt in Wien, in Hamburg und am Schauspielhaus in Frankfurt am Main. Eich, der anfangs noch sehr von der Literatur der Eltern geprägt war; von surrealistischen Bildern und kafkaesken Situationen, lebte bis zu seinem Unfalltod als freier Schriftsteller in Hamburg und Wien. Eich erhielt 1980 den Förderpreis der Stadt Mannheim und 1996 den Mara-Cassens-Preis, aber der wirkliche Rang seiner Gedichte und Erzählungen, auch die Qualität seines Romans: Das steinerne Meer wurden erst nach seinem Tod erkannt.

Als Autor stand Clemens Eich in vielem auf der Grenze. Geboren 1954 war er zu jung für die 68er Bewegung und eigentlich für Punk und andere spätere Subkulturen zu alt. Eich hatte sowohl die deutsche als auch die österreichische Staatsangehörigkeit, lebte in Hamburg und in Wien, ohne sich ganz da oder ganz dort zu Hause zu fühlen. Sein Hauptthema, in allen Genres, war das eigene Ich.

Das Motto seines Romans Das steinerne Meer ist der Satz des Holofernes bei Nestroy: „Ich möcht‘ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere ist, ich oder ich.“

Das Gedicht ist zitiert aus:

KUNZE, REINER (Hrsg.):
Über, o über dem Dorn (Gedichte aus hundert Jahren S. Fischer Verlag)
Frankfurt/M., S. Fischer Verlag, 1986

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jonasmitrahmen

 

Jonas Navid Mehrabanian Al-Nemri
nennt sich -trotz seines Namens, der es nicht vermuten ließe- einen Fischkopp. Denn er stammt aus Hamburg, wo er 1984 als Kind zweier Kulturen geboren wurde.
Jonas lebt und studiert heute in Freiburg, ist verheiratet und hat zwei Kinder. jonas navidSein Debüt, der Erzählband Umm Nur, wurde sehr positiv besprochen und war für viele Rezensenten zu Recht ein echtes Highlight. Der bekannte österreichische Autor Josef Haslinger sprach von Umm Nur als “einer neuen Mythologisierung der Innenwelt.”  Jonas orientalische Wurzeln schlagen sich kraftvoll und lyrisch in der Sprache seiner Geschichten nieder. Duftig, märchenhaft und dennoch modern und rätselhaft kommen die Texte daher. In seinen Erzählungen -so sagt er selbst- versucht er die Innenwelten einzufangen und das, was dazwischen liegt. Er vertritt die Ansicht, das Wort werde gemeinsam von Schreiber und Leser geschaffen, für ihn ist es etwas Intimes, Außergewöhnliches und Unbegrenztes.

Derzeit arbeitet Jonas an seinem zweiten Buch und ist mit dem Vorantreiben des neuen, unabhängigen kladdebuchverlags beschäftigt.

Veröffentlichungen:umm nur

Umm Nur
-Erzählungen-
worthandel : verlag, Dresden
130 Seiten
ISBN 978-3-935259-84-2
14,90 €

nominiert für:
hotlist 2011
sheikh zayed book award 2012

weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften:
„Amor und Psyche“
cross over/ Wettbewerb des Forum SQ (Hg.), 2010.
„Harem“ in IGdA-aktuell. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Heft 4, 2010. ISSN 0930-7079

– Meine ausführliche Rezension von Umm Nur findet man hier:
https://dingfest.wordpress.com/2013/06/09/rezension-umm-nur-von-jonas-navid-al-nemri/

– Mehr über Jonas erfährt man hier: www.al-nemri.de

– Zum kladdebuchverlag geht es hier: http://kladdebuchverlag.de/

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Hier der Text, den ich Jonas zum blindverkosten gab:

ACHTUNG!
Bevor der gute Jonas Schmähbriefe wegen seines respektlosen Umgangs mit dem ihm vorgelegten sensiblen Wortgebilde erhält, weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass die Meinung des lyrischen Ichs in dieser Verkostung nicht unbedingt die Ansichten des Verkosters wiederspiegelt!”

spiralblock

und:
Was ihm dazu einfiel:

Ich bin böse auf dich, Gedicht! Echt. Wieso nicht Rilke, ja oder Romantik oder irgendein Impressionist. Du bist so Nachkriegszeit, so Erich-Fried, so ungeübt. Du versuchst schön zu sein, scheiterst dabei, wie dein lyrisches Ich. Deine Bilder sind nicht einmal mehr kitschig, sondern gänzlich ausgeblasst: Mitten auf einer grünen Wiese. Mitten in einem blauen Bach, mitten auf einem hohen Berg. Ich bitte dich! Aber das Schlimmste an dir, sind deine
ein
Wort
und zwei
Wort Zeilen,
das ist so was von vorgestern und damit meine ich nichts Gutes, du bist nicht retro, nicht vintage, nicht used, du hast keinen Bootcut, bist nicht skinny. Vielleicht bist du karotte und verschwindest selbst in etwas, das schließlich doch größer zu sein scheint. Deine Enjambements hetzen sich gegenseitig, verhaken sich, verklumpen – da wunderst du dich, dass du dich fett fühlst? Deine Wespentaille täuscht! Denn dein Dichter hat dich gemästet, hat seine ganzen blöden Worte in dich hineingestopft. Jetzt du bist schwarte! Ich sollte dich grillen.
Ich bin böse auf dich! Und besonders dein Stabreim regt mich auf! Wiese-wie-Wunder … wow! Einfallsreich! Dieses Stilmittel liegt dir nicht, sonst würdest du nicht so dumpf klingen. Nimm dir ein Beispiel an Poe, dem weary-way-worn-wanderer: das ist eine Alliteration. Du enttäuscht mich schon im Titel. Ein Haarschnitt, der so ungenau deinen knochigen Kopf bedeckt, wie vokuhila-oliba. Ich habe dich Gedicht genannt und erkenne dir jetzt diesen Titel ab, du bist kein Gedicht, du siehst nur so aus. Du bist ein Erguss irgendeiner Mode und ich zücke die Schere und zerschneide dich. Ich hab jetzt auch ein wenig Mitleid. Echt. Du kannst ja nichts dafür, dass du so hässlich bist. Und ich höre schon die Leute sagen: das kannst du dem kleinen Ding doch nicht antun. Aber ich kann. Und ich will. Und ich werden denen sagen: wenn ich es töte, kann es wiedergeboren werden. Als Zeitungsannonce oder Waschanleitungsetikett. Auf jeden Fall sinnvoller und klingender, als das was es jetzt ist. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich keine Lösung hätte: ich dichte dich um, aber ich warne dich gleich: mehr als ein Haiku wird aus dir nicht.

Ich sitze im Gras,
bin depressiv und merke:
blablabla blabla.

Naja. Steht dir ganz gut, finde ich.
Schön bist du immer noch nicht, aber nun weiß jeder, woran er mit dir ist.
Und ich fühle mich gut. Das ist das Wichtigste.

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Mein Kommentar:

Jonas, Jonas! -Was hat dieses arme Gedicht dir nur getan? Nichts daran magst du, du sprichst ihm sogar die Bezeichnung GEDICHT ab. Dabei waren dieser Text und sein Autor mal sowas von hip und cool! So was von Pop und irgendwie auch Hardcore. Die Freaks lasen diese Texte! Und du, Jonas, findest es nachkriegszeit!- Es sei dir gestattet.  Komm du erstmal in unser Alter!!
Naja, es ist ja auch nicht viel dran.
Ein
vielleicht
mutig gemeinter
Zeilenumbruch macht
ja noch keine
lyrische Re
volution
-da magst du Recht haben. Und billige Alliterationen kann auch irgendwie Jeder, der das ABC beherrscht. Kunstlos, schlicht -ja, vielleicht profan kommt dieser Text daher. Aber: eine Wiedergeburt als Waschanleitung? -Das arme Ding. Da hat es all die impressionistischen Rüschen und expressionistischen Papphüte abgelegt und sich -überhaupt- ziemlich nackig gemacht und dann scheuchst du es so in die Ödnis! Ziemlich verschmäht steht es jetzt da, ohne Modelmasse, ohne trendiges Duftwasser, ohne schicke Dessous und du magst es nicht mit der Kneifzange anfassen!

Dabei kommt es doch auf die inneren Werte an, sagt man. Ist denn da was? Im Inneren unseres -zugegeben- äußerlich nicht sehr attraktiven Gedicht? Hm…schauen wir mal: Eine grüne Wiese reicht nicht für ein Gefühl….da müsstet ihr doch einig sein, oder? Und: irgendwie ist doch da irgendwas im Hintergrund, was mit duftigem Grün und blumigen Worten eh nicht zu fassen ist….der Autor merkt es doch selbst! Etwas, das sich von allein fortbewegt; etwas, was größer zu sein scheint als gekonnt-geführte-griffige-Gleichklänge und süße Synästhesie. Unser Autor weiß darum und weiß, er kriegt es nicht zu fassen -egal, welche Mittel er anwendet.  Dieses Etwas löst alles auf -lyrische Mittel, Moden, Haltungen- sogar den Autor selbst!

Dieses Gedicht ist also selbst kritisch gegenüber den Möglichkeiten der Dichtung, vielleicht will es selbst gar nicht Gedicht sein? In der scheinbar dilletantischen Nutzung lyrischer Mittel drückt es seine Abneigung gegen die süßliche Tradition des “schönen” Gedichtes aus und thematisiert dessen Unfähigkeit, das “Größere” zu fassen. Das wäre doch etwas, was diesen Text eventuell über die Waschanleitung erhebt, oder?

Und: ist der Autor dieser Zeilen wirklich einfach nur depressiv? -Ich weiß nicht. Sicher ist da das Leiden an dem oben benannten Umstand und sicher auch an der Ungreifbarkeit von Wahrheiten generell. Aber das Wissen darum ist m.E. doch schon was! Aber man kann es so sehen. Es fehlt die heute fast allgegenwärtige Haltung, die jede Aussage, jeden Standpunkt mit sofortiger Wirkung wieder relativiert und in Zweifel zieht: es fehlt die IRONIE, das lässig zwinkernde Auge oder die hochgezogene Augenbraue eines Harald Schmidt oder eines Christian- Kracht-liken Dandy-Darstellers. -Hier wird einach nur eine Aussage getätigt und mehr nicht- wir sind es nicht mehr gewohnt, offenbar!

Keine 50 Jahre alt und schon ist dieser Ansatz heute kaum noch nachzuvollziehen. Die Moden, Modernen und Schulen sind über diese ehemals schnoddrig-respektvolle Haltung hinweggegangen und der Schick dieser Zeilen ist verwelkt. Dies hier schockiert niemanden mehr und dies hier inspiriert auch kaum einen mehr. Leider. Es ist wahr: dieser Text ist auch schon mainstream, nicht mal mehr vintage oder retro-schick.

Jonas war es schon ein wenig peinlich, als er erfuhr, für wessen Werk er gerade den Grill angeheizt hatte. Immerhin zählt der Autor von Mehr oder weniger zu den Säulenheiligen der meisten jungen Autoren und gilt allgemein als wesentlich cooler als z.B. Hesse oder Fried. Aber unser Proband hat ja Recht- im Text selbst und seiner Erscheinungsform ist davon nur noch wenig zu spüren.

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brinkmannNun, lösen wir es auf:

Unser Gedicht Mehr oder weniger stammt vom großen Rolf Dieter Brinkmann, der in den 60er und 70er Jahren sozusagen die Beat- und Hippieliteratur amerikanischer Ausprägung nach Deutschland  brachte.  Brinkmann entkleidete die Lyrik sowohl des politischen Pathos` als auch der lyrischen Attitüde. Alltag, Werbung, Pop und Banalität wurden zu seinen Themen. Brinkmann, der alles andere als ein Spaßmacher war, ließ seine Gedichte auf abgerissene Fetzen von Pin-up-Plakaten drucken, tourte monologisierend mit einem Aufnahmegerät des Westdeutschen Rundfunks durch Köln und zeterte, schmähte, polterte gegen alles und noch was. Der Kleinstadt-Junge aus Vechta im westlichen Niedersachsen fand seine Heimat in der rheinischen Metropole und provozierte auf Lesungen und Podiumsdiskussionen gerne einmal die Zuhörer und Mitdiskutierenden. Marcel Reich-Ranicki attackierte er einmal mit den Worten: “Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, dann würde ich Sie jetzt niederschießen.”

Der Dichter mit der Bürgerschreck-Attitüde, dessen vielleicht bekanntestes Buch der Roman: Keiner weiß mehr ist, verstarb 1975 bei einem Unfall in London.

Mehr oder weniger
ist dem Band:
Rolf Dieter Brinkmann
Standphotos
Gedichte 1962-1970
Rowohlt Verlag, 1980
ISBN 3498004611

entnommen

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 Folge 6: mit Arnd Dünnebacke

arnd schild

Der Proband meiner heutigen Folge -Blindverkostung- ist Einer, der sagt, was er denkt. Und zur Blindverkostung meinte er spontan, so etwas sei für ihn ungefähr so reizvoll wie die Steuererklärung! Dennoch konnte ich ihn breitschlagen und bekam letztlich einen sehr schönen, persönlichen Beitrag. Vielen Dank dafür!

Arnd DünnebackeArnd Dünnebacke, Jahrgang 1976, ist geboren und aufgewachsen im Sauerland. Dort kurzzeitig Bäcker und lebendes Drogenlabor. Bewegt sich seitdem als Faktotum durch die bundesrepublikanische Arbeitswelt und seit 2005 durch Hanau. Veröffentlichte in Anthologien, Literaturzeitschriften und 2012 den Gedichtband »Glück ist ein brennendes Flugzeug« im Acheron Verlag, Leipzig. Im September 2013 erscheint der Nachfolger »Gehobene Wohnlage«.

Am Schreiben von Gedichten reizt Arnd -nach eigener Aussage- die Möglichkeit, mit wenigen Worten einen Schlüssel zu einem ganzen Universum zu formen. Außerdem helfen sie ihm, sich zu erinnern, “auch da, wo jeder vernünftige Mensch lieber vergessen würde.”

Der Autor würde gerne einmal mit dem alten Bukowski, dem jungen Heine, Rimbaud und Beethoven eine Nacht durchzechen. “Und Remarque besorgte den Absacker – halb Rum, halb Port.”

Arnds erster Gedichtband: “Glück ist ein brennendes Flugzeug” erschien dieses Jahr im Acheron Verlag, Leipzig. Meine ausführliche Rezension dazu findet man hier: https://dingfest.wordpress.com/2013/06/09/rezension-gluck-ist-ein-brennendes-flugzeug-von-arnd-dunnebacke/glcük

Weiterhin erschienen Texte von Arnd Dünnebacke in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, z.B. dem LaborBefund Nr. 5. Ein weiterer Band mit Lyrik sowie Romanmanuskripte befinden sich in der Warteschleife.

Ich schätze Arnd und seine Texte seit einiger Zeit sehr. Bei ihm geht es immer handfest zu. Sicher, es gibt nix Geblümtes und auch keinen Rosenduft bei ihm, dafür weiß man immer, woran man ist. Und: in Arnds scheinbar einfachen Texten und profanen Themen schlummert etwas und dieses Etwas ist genau, worauf es ankommt! Eine ganz kleine, leise Wahrheit.

Ich darf einen Leser zitieren, der kürzlich auf Umwegen auf Arnds Texte stieß, denn genauer kann man es nicht auf den Punkt bringen: “Mann, der sagt genau das, was ich auch denke und erlebe, aber ich könnte nicht einen Satz davon schreiben”

Er nehme es mir nicht übel- aber seit Arnd vor Kurzem Vater geworden ist, höre ich in seinen neuen Texten sogar eine Milde und Wärme, die ihn mir noch lieber macht.

Mehr von und über Arnd gibt es hier: http://duennebacke.jimdo.com/

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Hier der Text, den ich Arnd zum blindverkosten gab:

text arnd

Und sein “Senf” dazu:

Keine Ahnung, wie mich Matthias drangekriegt hat hier mitzumachen, denn eigentlich finde ich es mehr als grausam mich über andere Texte auszulassen, oder, schlimmer noch, sie bis ins Kleinste zu sezieren, denn das übersteigt schlicht meine Fähigkeiten, bzw. meine Motivation. Also lassen wir das.

Ich hab grad ohnehin ganz andere Dinge im Kopf – Ende Mai bin ich zum ersten Mal Vater geworden. Und ja, das ist mal ein verdammtes Wunder! Wie dieses süße kleine Stinktier von einem Sohn da unten rauskam, mit Armen und Füßen und einem Kopf, der so klein war, dass er wie ein Granatapfel in meiner Hand lag! Und trotzdem war schon alles darin, was er zum Start in dieses Leben brauchte: Der Instinkt zu atmen und die Mutterbrust als das zu erkennen, was sie ist – Nahrung und Wärme und Geborgenheit.

Wisst ihr, jedes Wunder beginnt in einer einzigen Zelle, und das ist das eigentliche Mysterium: Weder eine Supernova noch der letzte Fanfarenstoß der absolutesten Symphonie sind der Höhepunkt, es ist der Anfang des Unbegreiflichen, der uns sprachlos macht. Und plötzlich kam mir der Kopf, den ich am Tag vor der Geburt noch auf meinen Schultern getragen hatte, so dermaßen winzig vor, dass ich beinahe lachen musste. Wenn es Gott geben sollte und wenn er einen Plan hat, hat er ihn mir jedenfalls noch nicht verraten – wie sonst hätte mich diese kolossale Erweiterung meines Universums so überraschen können? Und überhaupt, wer sagt eigentlich, dass Gott planmäßig vorgeht oder weiß was er tut?

Vielleicht ist Gott allmächtig,
vielleicht ist er so schlau wie wir?
Und fragt sich nachts im Sternenzelt:
»Was mach ich eigentlich hier?«

Vielleicht sind wir die Suchenden
die er sich einst ersann,
die eine Antwort zu ergründen,
die er allein nicht finden kann.

Vielleicht auch sitzt er neben mir
und schaut mir lachend zu
und spottet, und ich hör es nicht:
»Ach herrje, was weißt’n du

Na ja, wahrscheinlich nicht so besonders viel. Aber trotzdem genug um zu wissen, dass die härtesten Widerstände in einem selbst zu finden sind und die äußeren Hürden lediglich der Bequemlichkeit dienen, die inneren zu rechtfertigen, was in den meisten Fällen mit dem Argument der Vernunft einhergeht. Doch vernünftige Menschen fliegen weder zum Mond noch schreiben sie Bücher oder kommen morgens um halb vier besoffen zu der Einsicht, dass, wer im Glashaus sitzt, verdammt nochmal mit Steinen werfen sollte:

In Form gegossen
mit sechs Glas Wodka-O
denke ich an dich, um 3:34 Uhr,
wie ich gestern Nachmittag
ins Krankenhaus fuhr und
im Zimmer deiner Mutter
in diesen Glaskasten sah,
in dem du gähntest und schriest
und deine Windeln vollkacktest,
und ich deine Stirn küsste,
die so warm und weich war,
dass mein Herz für einen
Augenblick innehielt,
wie ein Schmetterling
der zur richtigen Blüte findet.
Aber, Herrgott, wie soll man den
Beginn von etwas begreifen,
was einem selbst beinah
unmöglich erscheint?

Und du hast Arme und Füße
und alles, diese Welt
und dich herauszufinden,
und ich hoffe inständig,
das die Unerschrockenheit
dich ebenso begleitet
wie mich, bei dem Versuch
zu verstehen um 3:45 Uhr.

Ich dachte, ich wüsste schon
einiges, doch jetzt, da du da bist,
weiß ich, ich wusste nichts.

Liebe ist ein Fass ohne Boden,
ist ein grenzloser Himmel,
die Unendlichkeit der Seele
beim Anblick deiner winzigen
Gliedmaßen, wo die Natur
sich einrichtet im Strampeln
einer weitergereichten Genetik –
dein Aussehen jedenfalls
hast du vom Opa deiner
Mutter geerbt.

Auch er lag in einem Glaskasten
als ich seine Stirn küsste,
aber die Stirn war kalt
und es war ein Abschiedskuss.

Das Leben und der Tod,
eingerahmt von Wänden aus Glas –
dazwischen liegt die Freiheit
zu tun und zu lassen was du willst
und glücklich zu werden.

So fürchte dich nie
einen Stein in die Hand
zu nehmen, der vielleicht
deine Grenzen sprengt.

Denn dafür
bist du hier.

Nun, ich glaube, das war so ziemlich aller Senf, den ich dazu geben kann. Das Leben ist halt, womit man am wenigsten rechnet – die Natur scheint planlos in ihrem Werden und Sein und Vergehen, sie ist und ist und ist, und wir stehen da mit unseren Tabellen und Kalkulationen und wissen nichts.

Wahrscheinlich stellen wir einfach nur die falschen Fragen,
obwohl wir die Antwort kennen:

Liebe.

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Mein Kommentar:

Ich danke Arnd für diese schöne Folge -Blindverkostung- . Dass literaturhistorische Detektivarbeit nicht des Dünnebackes Ding sein würde, war mir klar, es tut aber m.E. dem Vergnügen keinen Abbruch. Arnd interessieren große Namen nicht. Ihm geht es immer um den Text und diesem hier nähert er sich letztlich auf eine individuelle Weise dennoch an.

Schön, wie er hier seine Gedanken zur Zeile: Je kleiner der Kopf, desto größer das Wunder äußert. Im Ursprungstext kommt der unbekannte Autor über diesen Satz ja zur Ameise. Arnd dagegen denkt an seinen Sohn, an Kinder, deren kleine Köpfe und der ganze kleine Rest ebenfalls Wunder sind.  Ich war ohnehin gespannt, wie Arnd mit einem Text umgehen würde, der den Begriff GOTT enthält. Die Schöpfung und die Zufriedenheit des Verantwortlichen damit ist ja ein interessantes Thema.  Ein ganzes, komplexes Sein in etwas Winzigem unterzubringen wird hier also als größere Tat angesehen, als das Gleiche dort unterzubringen, wo viel Platz ist…… . Somit wäre die Katze, der Hund und letztlich der Mensch eine kleinere Leistung als die Ameise. Wir wissen es nicht, wir können nur mutmaßen….Arnd hat Recht.
Und: wir selber schätzen unsere Bewegungen, unsere Taten sicher als planvoller ein als die der Ameise.- Aber: ist dem wirklich so?
Kaum eine Spezies ist so strukturiert, sachlich und prägnant in ihrem Tun wie diese kleinen Tiere. Und wir?- Krebsen herum und tun so viel Unnützes, Überflüssiges und Vergebliches, arbeiten uns ab an diesen für uns viel zu großen Fragen, rechnen, kalkulieren am Universum herum und hinterm Gleich, unterm Strich steht so oft GOTT, mal mit und mal ohne ein Fragezeichen dahinter, dessen Form einem Fleischerhaken ähnelt.

Hindernisse sind äußerlich -bei Ameisen, ja! Wobei die Ameise auch gerne ihre 6583 Freunde holt und das Hindernis einfach wegträgt, ohen Murren, ohne Jammern. Und wir? – Hält uns oft nicht viel mehr Inneres auf? Angst, Stolz, Vorurteile? All das kennt die Ameise nicht und muss es deshalb nicht mühselig wegtragen…. .
Und wenn wir auf Widerstände stoßen -was tun wir so oft? -Wir sprengen, bomben, diskutieren, lügen sie weg. Die Ameise geht drum herum oder verreckt daran- einfach wie traurig! Einfach das Ende. Wessen Menschen Ende ist einfach? Wir sterben verbittert, verhermt, tragisch, traurig.

Dies ist kein Plädoyer, es den Ameisen gleichzutun. -Aber eines, mal darüber nachzudenken. Arnd hat erkannt, dass in seinem Sohn, der in seinen jetzigen Möglichkeiten, sich zu verteidigen, sich nur am Leben zu halten, weit weit unter der Ameise steht, ein Wunder steckt. Und er weist uns darauf hin, dass all die Fragen, auch die Vermutungen unseres heutigen Textes, letztlich nur mit Vielleicht beantwortet werden können.

Das kleine Gedicht “Ameise” stammt von einem der wichtigeren deutschen Lyriker der vergangenen Jahrzehnte .

Rainer Malkowski

malkowskiMalkowski wurde 1939 in Berlin geboren und verstarb; 2003 in Brannenburg. Nach journalistischen Anfängen und Erfahrungen als Geschäftsführer einer Werbeagentur gelang es Malkowski gleich mit seinem ersten Gedichtband Was für ein Morgen 1975 sich als Lyriker zu etablieren. Seine Gedichte sind “einfach”, die Themen “klein”- nicht das große Weltgeschehen, sondern Natur und die Innenwelten spielen in seinen Texten die Hauptrolle. Aus diesen Gründen definiert man den Lyriker Malkowski zu einem Vertreter der NEUEN SUBJEKTIVITÄT, die in den mittleren und späten 70er Jahren der politischen und gesellschaftskritischen Lyrik mit ihrem “WIR” ein “ICH” entgegensetze.

Malkowskis Werk besteht fast ausschließlich aus Lyrik, Exkurse zum Roman oder anderen größeren Formen finden darin nicht statt.  Der Autor war Stipendiat der Villa Massimo und erhielt zahlreiche Literaturpreise, der Bedeutendste davon sicher der Joseph-Breitenbach-Preis im Jahre 1999. Seit 2006 wird im Auftrag der Rainer Malkowski- Stiftung von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ein nach ihm benannter Literaturpreis verliehen.

Malkowski wuchs in Berlin-Tempelhof auf, besuchte dort die Askanische Oberschule und arbeitete zunächst in Berliner Zeitungsverlagen. Bis 1972 war Malkowski Geschäftsführer einer Werbeagentur, danach trat er als Lyriker an die Öffentlichkeit. Malkowski gelang es, sich bereits mit seinem ersten Gedichtband als Lyriker zu etablieren. Mit einem unverwechselbaren lakonischen Ton schuf er beeindruckende Gedichte, in denen die Natur eine Hauptrolle spielt und die eine große Affinität zur Neuen Subjektivität aufweisen. Ihm ging es vor allem ums Beobachten und das sich vergewissernde Bewusstsein des Beobachtens. Malkowski war Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Freien Akademie Mannheim. Seit 2006 wird im Auftrag der Rainer Malkowski Stiftung von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste der Rainer-Malkowski-Preis verliehen.

AMEISE ist dem Band:

Hunger und Durst-Gedichte-
Suhrkamp Verlag 1997
ISBN 9783518409060 entnommen.

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schildhanna

hannaAuch unsere heutige Probandin:
Hanna Scotti ist wieder einmal höchst interessant und mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Humor bestens geeignet für die Blindverkostung.

“Die Welt ist meine Bühne, Improvisationen, Augenblicke in lebendigen Begegnungen sind meine Freiheit und meine Stärke.”

Ich stieß auf Hanna und ihre Texte in einem sozialen Netzwerk und war sofort von ihrem Esprit und ihrer Art begeistert. Nach gelegentlichem Austausch und dem Besuch ihrer Blogs kam ich aus dem Staunen über Hannas vielfältige Betätigungen nicht mehr heraus.

“Aus Afrika brachte ich den „groove“, aus Asien „die Stille“ des Zen mit und webe alles in meine künstlerischen Arbeiten ein. Meine Texte, Zeichnungen, Fotografien und mein Spiel als Clownin sind davon geprägt.”

Hanna schreibt wunderbare Lyrik und sehr kluge und spitzfindige Artikel; gemeinsam mit ihrer Freundin Wiebke Plett widmet sie sich ihrem Hauptthema: dem Älterwerden. Die beiden schreiben, fotografieren, malen und machen Filme- und das alles voller Lebensfreude und bewußt gegen den Zeitgeist, der das Alter und den Tod so gerne ausblenden möchte.

Über sich selbst sagt Hanna:

Wer bin ich ? Wenn ich das wüßte…..
Jedenfalls fühle ich mich wie eine alte Närrin und verlaufe mich ständig in den verstaubten Falten des Theatervorhangs –
unter meiner Fußmatte habe ich mich neulich gefunden.
Wer sich nicht bücken möchte, um dort nachzuschauen findet dieses Rumpelstilzchen bei google unter ihrem Namen :
Hanna Scotti

Hanna Scotti und Wiebke Plett sind Mitgliedinnen in:
Literaturkontor Bremen
der Autorinnenvereinigung e.V.
der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.
Deutsche Haikugesellschaft e.V.
und waren 2012 nominiert für den Lyrikpreis Hochstadter Stier

 Ausführlichere Einblicke in Hannas vielschichtiges Tun erhält man hier:
http://hanna scotti.wordpress.com/
und
www.kunstvollaltern.de

Veröffentlichungen:scotti buch

Einzeltexte online und in Zeitschriften,
gedruckt liegt vor:
http://www.schicksal.komm
-Gedichte-
ISBN 9783943599077

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Hier der Text, den ich Hanna zum blindverkosten servierte:

texthanna

Und, was ihre Geschmacksknospen dazu sagten:

Eine köstliche Fischsuppe hast du mir hier serviert :

1 Prise Salz aus Aesops Mühle
2 EL. Geriebenes aus der Mystik
1 Tube  Mark aus den Töpfen Laotses
1 Spritzer Konfuzius
– Buddhas und Mohammeds Kleinigkeiten bleiben ein ewiges kulinarisches Geheimnis für den Gaumen,
ver(r)(f)ührt mit feinem jüdischen Humor

Das kann nur einer und ich setze hier alles auf eine Karte :
„Bertolt Brecht“.

Die Poesie dieses Textes liegt meines Erachtens einerseits in der schlichten literarischen Klarheit, andererseit an der Offenheit, die sich wie ein Kaleidoskop entfaltet. Immer neue Interpretationsmöglichkeiten bieten sich: Fische als Metapher für das „einfältige Volk“; in der Fremde (im All) ist alles besser ;Realitäten zurechtrücken – wie’s beliebt; die Begrenztheit aller lebenden Wesen löst sich in der Gleicheit auf; Misstrauen in die eigene Spezies; ich bekomme einen Gehirnknoten von all den Bildern und in dem Moment, in dem ich den Text loslasse, geschieht etwas Unglaubliches : ein Lachen taucht in mir auf, ein Lachen über diese irrwitzige, absurde, bunte, lebendige Welt, die sich großspurig in fremde Planeten ausdehnen will, sie vielleicht sogar erobern möchte? Das alles finde ich in dieser Geschichte, dass kann nur ein weiser Mensch geschrieben haben. Das Wort „ Kosmonaut“ verweist auf Ort und Zeit : Seine zeitweilige Nähe zum Sozialismus und zum Wettlauf im All, der etwa 1950 begann. Auch seine Affinität zu fernöstlichen Philosophien ist hier gut zu beobachen. Stutzig macht mich die Zahl 58 in dem Zusammenhang. Das steht dort sicher nicht ohne (politischen ? ) Grund, aber ich kenne ihn nicht.

Vorsichtshalber erwähne ich noch Böll, Grass und Benn. Böll mit seinen „Ansichten eines Clowns“ hätte die literarische Feingliedrigkeit, würde aber nie auf einen „Kosmonauten“ verweisen. Günther Grass ist einfach kein Autor filigraner Poesie. Gotfried Benn war Expressionist und liebäugelte mit Nietzsche, das ist kein Nährboden für diese Geschichte. Beim Überarbeiten machte meine Liebste mich noch auf Kunert, Biermann und Walser aufmerksam, aber keinen würde ich als Autor dieses „feinen Geschichtchens“ sehen. Und die Frauen ?? Ja, die Frauen hatten keine Zeit für Poesie. Sie befreiten sich gerade schmerzvoll aus Kirche und Küche und zeugten Kinder (möglichst weiblich) mit den Autonomen vermutlich mit allen gleichzeitig. Oder sie wurden die besseren Männer. Der Zickenkieg war eben allgegenwärtig und ließ einfach keinen inneren Raum für solche Kleinode, wie diese Geschichte. Neuere, jüngere Autoren/innen habe ich nicht in Betracht gezogen, weil das Thema später zwar sporadisch erschien, aber an politischer und sozialer Brisanz verlor und nur noch als Spektakel in den Medien auftauchte.

Da meine Gedächtnisstrukturen sich meistens im „jetzt“ bewegen, bitte ich um Nachsicht, wenn meine Gedanken sachlich nicht stimmen. Ich habe mich bereits damit ausgesöhnt , kein Monopol auf Wahrheiten zu haben. Aber diese „blinde“ Beschäftigung mit einem dreh – und angellosen Text ohne Anker, hat mich zur Fischerin in meinen autobiographischen Gewässern gemacht.

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Mein Kommentar:

Ja, eine hübsche Fischsuppe ist das hier. Ein ausgewogen komponiertes Gericht, mit ausreichend metaphorischem Salz und vollmundigem Hintersinn abgeschmeckt. Was ist das für ein Text, den Hanna Scotti hier mutig für uns blindverkostet? -Mit Fischgerichten muss man ja generell etwas vorsichtig sein!

Wir haben hier Tiere, denen durchaus menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden: Sprechen, Denken, die Sehnsucht nach etwas Höherem und IRREN! Diese Kiementräger wollen hoch hinaus und landen -na wo? Im Verderben! Dies ist tatsächlich eine Art moderne Fabel. Dass sie nicht von Lafontaine, dem großen französischen Fabeldichter stammen kann,  dürfte allein durch die Verwendung des Begriffes Kosmonaut klar sein. Den irgendwie ostdeutschen Bezug schmeckt Hanna ja auch gleich heraus. Kann man hier vielleicht auch gleich eine zeitliche Eingrenzung versuchen? Hanna legt sich nicht so recht fest, definiert zwar 1950 als Beginn des Wettlaufes ins All und setzt somit einen sehr richtigen ersten Punkt; sie assoziiert auch gleich Autoren wie Brecht, Grass, Böll und Benn, deren wichtigstes Schaffen sich ganz grob über die 50er bis in die 60er Jahre  erstreckt und liegt letztendlich damit gar nicht so verkehrt! Früher kann dieser hübsche kleine Text mit Widerhaken also kaum entstanden sein. Aber vielleicht später? Spätestens ab der Mondlandung der Amerikaner 1969 verlor der Kosmonaut als Wort, Symbol und Beruf wohl deutlich an Bedeutung.  Könnte dies ein Endpunkt sein? -Genug der Rätselei: der Text stammt von 1968.

Böll vermutete Hanna – Ja, das Hintersinnige und der Hang zu einer moralischen Komponente ist da. -Ist aber nicht Böll!
Grass schließt Hanna selber aus. Zu leise, zu feingliedrig für den wortgewaltigen Erzähler, schlußfolgert sie -wobei Grass erster Gedichtband einen sehr schönen Text über Küken im Ei enthält, der durchaus “fabel”haften Charakter hat.   -Dennoch: nicht Grass.
Auch Benn kommt nicht in Frage.
Aber Brecht? -Hanna haut hier ja gleich zu Beginn ein Rezept heraus, dass durchaus aus dem Kochbuch des Augsburgers stammen könnte:

1 Prise  Aesop
2 EL.  Mystik
ein wenig Laotse und Konfuzius
und letztlich alles gut verrühren mit einem schönen Schuß hintersinnigem Humor, das könnte  doch nach Brecht schmecken!
Auch die Doppelbödigkeit des Textes, dieses beinahe Fabel-in-der-Fabel, wäre dem Geiste Brechts angemessen, denn neben der Übertragung des Strebens nach etwas anderem als dem immer gleichen Tümpel auf die Fische gibt es hier ja auch noch den staunenden Angler, der dem Fisch nichts anderes ist als großer Fisch und der bedauernswerterweise einziger Zeuge eines Wunders wird, das ihm keiner glauben wird.

Dennoch: -Nicht Brecht!
Aber Hannas mutiger Schuß aus der Hüfte geht gar nicht sooooo weit daneben!
Brecht, nach dem Krieg im Osten Deutschlands angesiedelt, teilt seinen Wohnort dieser Tage mit unserer Verfasserin. Und dort war er die prägendste literarische Kraft auch für die, die nicht so regimetreu waren. Sein Einfluß ist hier sicher mehr als nur zu vermuten. Er dürfte als gesetzt angenommen werden, denn unsere heutige Autorin wuchs in Ost-Berlin auf und begann das Schreiben und Veröffentlichen just in den Jahren, in denen der olle Brecht sich dort niederließ. 

Ich war etwas verwundert, dass Hanna in ihrer Besprechung nur männliche Autoren in Betracht zog und fragte deshalb nach. Daraufhin ging Hanna noch einmal in sich und ergänzte folgende Antwort, die ich nicht unterschlagen möchte:

Eine schöne Spielerei, dieses Kreuz – und Querdenken. Matthias hat nichts verraten, aber ich ahne : es ist doch eine Frau. Warum schloß ich sie so konsequent aus? Der Knick in meiner Argumentation ist mir in der Nacht klargeworden. So wird noch ein weiteres Stück Zeitgeschichte aus dieser Fabel ans Licht getragen.

Mein Focus in der Interpretation landete ganz intuitiv bei den Aktivitäten der Frauen im Westen. Unsere literarischen Themen waren Simone de Beauvoir, Sartre, die Straßenkämpfe in Paris und Berlin, die Emanzipation. Und all das endete abrupt an der Mauer. Oft stand ich davor, ratlos, ohne Vorstellungen von diesem „fremden Land“ auf der anderen Seite. Wie lebten die Frauen dort? Ich wußte nichts, alles war fremd und bedrohlich und es gab kein Ende. So wandte ich mich wieder meinen eigenen Interesse zu. Das ist eine Lücke, die ich emotional und intellektuell nicht schließen kann, wie sich hier ganz deutlich zeigt. Ich habe es nicht bemerkt. Leider war ich nicht politisch genug, mich diesem „Fremden“ zu nähern. Ich kannte sie einfach nicht, diese literarischen Schwestern. Sie waren fremd und lebten in einem Staat, der mir fremder war, als die Frauen in Afrika. Christa Wolf : Ihre Kassandra, gelesen von ihr selbst, geht unter die Haut. Sarah Kirsch, was gäbe ich heute darum, diesen Frauen in „unserer gemeinsamen Zeit“ begegnet zu sein. -Es ist ein Wunder, da schickt mir ein junger Mann eine kleine Parabel, die mich mir selbst näher bringt. Danke Matthias.

Ich habe zu danken, Hanna!!

Aber nun genug des Rätselspiels: Unser heutiger Text -Fische- stammt von:

reinigChrista Reinig (1926-2008)

Christa Reinig kam 1926 als uneheliche Tochter einer alleinerziehenden Putzfrau zur Welt und wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Ost-Berlin auf. Im Zweiten Weltkrieg war Reinig zunächst Fabrikarbeiterin, dann Trümmerfrau und später Floristin. An der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin erwarb sie in den frühen 50er Jahren ihr Abitur und studierte im Anschluß Kunstgeschichte und Archäologie. 1957 bis 1964 war sie wissenschaftliche Assistentin am Märkischen Museum.

Das Schreiben begann Reinig bereits in 40er Jahren. Sie arbeitete an der Ostberliner Satire- Zeitschrift Eulenspiegel mit und konnte einige literarische Beiträge veröffentlichen. 1951 wurde jedoch wegen ihrer unangepaßten Haltung ein Publikationsverbot gegen sie verhängt, so dass ihre Werke von dort an nur noch in westdeutschen Verlagen erscheinen konnten. Von 1949 bis 1960 konnte sie sich als Herausgeberin des hektografierten Heftchens Ewiwa Future einer west-Berliner Autorengruppe betätigen. 1964, nach dem Tod der Mutter, kehrte Christa Reinig von der Reise anlässlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises nicht wieder in die DDR zurück und lebte seitdem in München.

Christa Reinigs Werk enthält balladenhafte Gedichte, Liebeslyrik, Prosa und Hörspiele. In den 1970er Jahren bekannte sie sich öffentlich zu ihrer lesbischen Orientierung und von da an nahm die Beschäftigung mit dem Feminismus breiten Raum in ihrem Werk ein. Reinigs Texte sind häufig von Satire und schwarzem Humor gekennzeichnet. Die Autorin  war Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland und in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.

Christa Reinig, die an Morbus Bechterew erkrankte, lebte seit 2008 bis zu ihrem Tod in einem Münchner Pflegeheim.
Neben dem Bremer Literaturpreis erhielt Reinig für ihr Werk auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Deutschen Kritikerpreis und war außerdem Stipendiatin der Villa Massimo sowie Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.

-Fische-
erschien erstmals 1968
in dem Band:
Orion trat aus dem Haus
-Neue Sternbilder-
Eremiten-Presse

Mit dieser schönen Folge verabschiede ich mich erst einmal für eine Woche! Auch bei mir steht Urlaub an, aber am übernächsten Sonntag gibt es bereits die sechste Folge der -Blindverkostung-. Bis dahin müsst ihr halt die alten Episoden nochmal lesen oder euch die Bücher der Verkoster und Verkosteten besorgen…..! Ich freue mich auf die Auszeit und wünsche alles Angemessene! Bis bald!

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tafel

Auf den heutigen Teilnehmer meiner Reihe bin ich besonders stolz, wagt er sich doch nicht oft unter Leute und nimmt nur bedingt an dem Teil, was man Literaturbetrieb nennt. Ich stieß auf Paul Fehm durch seinen Blog, der auf Betreiben einiger Freunde des Autors entstanden ist.  Seine Texte packten mich sofort. Da es kein Bild von ihm im Netz zu finden gibt und er auch seinen Blog nur mit historischen Porträts anderer Persönlichkeiten schmückt, konnte ich nicht so leicht eruieren, ob es sich bei deren Verfasser um einen jungen oder schon reiferen Menschen handelt, welche Art Eindruck er hinterlässt und, ob dieser zum Klang der Texte passt. Seine Literatur ist wuchtig, kraftvoll und zeitlos, fernab von allen Moden und Trends. Das verwirrte mich anfangs etwas. Mittlerweile konnte ich in unserer Korrespondenz ein wenig herausfinden. Paul ist 29 Jahre alt, sieht aber -nach eigener Auskunft- besser aus! Er studiert in Heidelberg und veröffentlicht ausschließlich auf seinem Blog. – Aber ich könnte niemals richtig darstellen, wie besonders der heutige Proband ist, deshalb lasse ich ihn lieber selbst die Vorstellung übernehmen.

Ich studiere seit ein paar Jahren in Heidelberg (davor Berlin), ohne zum Ende zu kommen und studiere alles wild durcheinander. Ich arbeite in verschiedenen Küchen, um meine kleine Wohnung am Waldrand zu finanzieren. Das funktioniert auch meistens. Ich mag den Fluss und die Ruhe beim Angeln. Ansonsten: eine Handvoll Menschen, Blue Mountain Kaffee, Dornfelder, Jazz, Elektro, die Bücher. Nachts bin ich manchmal in den Gassen unterwegs, aber meistens meide ich die Menschen.

Dass ich jetzt einen Blog habe, ist nicht meine Schuld, sondern die von ein paar Freunden, die unbedingt was mit meinen Texten machen wollten. Sie nennen sich »Es lebe der König« und spielen mit meinen Sachen. Ich finde das ganz gut, verstehe aber ihren Enthusiasmus nicht. Jedenfalls sagten sie, ein Blog wäre gut und ich habe mich überreden lassen.

Aber letztlich schreibe ich nicht, um etwas oder jemanden zu erreichen, und auch nicht, weil ich möchte – mir ist es mehr ein natürlicher Reflex. Ich glaube, mit meiner Literatur ist es wie mit dem Regen: Er trifft jene, die draußen im Freien sind, ohnehin, ich werde also nicht gegen Häuser, Schirme und überdachte Bushaltestellen anreden.

paulfehm

Pauls Blog ist hier zu finden:

paulfehm.wordpress.com

Hier der Text,

den ich Paul Fehm zum blindverkosten gab:

Bild                               Und das Ergebnis seiner Beschäftigung damit:

  Draußen…die…Düne.

Das Gedicht spricht von der Liebe, es spricht genauer vom Ausbleiben der Geliebten. Vielleicht habe ich sie verstoßen, vielleicht ist sie auch einfach gegangen. Ich kenne dieses Gefühl jedenfalls, auch wenn mein Fenster zum Wald geht, nicht zum Meer. Diese Erfahrung von Verlassensein wird vom Gedicht allerdings zugleich ins Allgemeine gewendet: Ich ringe um meine Einheit.

 Draußen…die…Düne.

Das Gedicht beginnt mit dem Blick nach »Draußen« und endet mit dem Blick ins Innere, ins »Herz«. Gekennzeichnet sind die Verse durch eine Sprache, die Beobachtung erzeugt: die Beobachtungen des lyrischen Ichs treiben es dazu, diese in Worte zu fassen, und das Sprechen wirkt zugleich produktiv an der Wahrnehmung mit. Mimesis und Konstruktion halten sich die Waage.

Immer stehe ich anfangs am Fenster und sieht nach draußen gegen eine »Düne«: der Blick trifft also sogleich auf einen Widerstand, auf aufgehäuften Sand, auf die Düne, die den Blick über das bis zum Horizont reichende Meer versperrt. Ich stelle mir vor, wie mühsam es wäre, die Düne, mit dem nassen Sand unter den Füßen, im Regen hochzulaufen. Das poetische Ich fühle mich eingesperrt.

Aber wie um wie  vieles leichter ist es doch, solange die Düne, der Wald, das Meer vor  dem Fenster wogt. Wenn es aber durch die Scheiben bricht, sie  zersplittert, den Raum anfüllt und ich wie in einem Aquarium gefangen bin, dann braucht es das Talent zu Kiemen, wenn man nicht in der Einsamkeit ertrinken will. Wo bleibt M.?

Das Vorherrschen von Substantiven und elliptischen Sätzen, die das Verb aussparen, bewirkt dabei eine nur scheinbare Objektitvität und Verlässlichkeit in der Beschreibung. So wie Ich mich hier in einer Ansammlung von Betrachtungen verliere und zugleich konstituiere, kommt diese Dialektik auch in der Kombination von »Düne« und dem bestimmten Artikel »die« zum Vorschein.

Der bestimmte Artikel »die« behauptet eine Einheit der Düne, genauer gesagt: ihre Einheit, die doch selbst nur aus Abermillionen Sandkörnern besteht. Diese Sandkörner finden ihre graphische Reflexion in den Auslassungspunkten, die zugleich auch die vergehende Zeit darstellen und fühlbar machen wie in einer Sanduhr. Die Punkte, wie Bilder des Atomismus, trennen die Redeinheiten und verbinden sie zugleich. Synthese und Analyse bewirken die Spannung des Gedichtes.

 Einsam…das Haus,
 eintönig,
 ans Fenster…der Regen.

 War ich im ersten Vers nur im Standpunkt des Beobachters im Inneren des Hauses präsent, so erscheine ich nun in der subjektiven Befindlichkeit »Einsam«. Das Einsame bedeutet eine Sammlung in das Eine, Konzentration, Reduktion. »Eintönig«: Das Gedicht trägt ein Ton, später wird die Rede vom »Ton« durch »grau« mochmals aufgegriffen.

Der Ort des Sprechers wird nun genauer lokalisiert, er befindet sich drinnen, hinter dem »Fenster«, vom »Regen« durch die Fensterscheibe getrennt und zugleich ihm nahe. Regen besteht aus Abermillionen Tropfen, aber auch hier wird die Einheit behauptet: so wie das Ich seine Integrität, die es zu verlieren droht, redend verteidigt. Die Statik der Atmosphäre wird allein durch das »Regen« des Ichs dynamisiert.

Wenn es zu wenig regnet, dehydriert mein Gehirn, die Gedanken werden dröge. Oder, wie wenn ich vertrocknet aus dem Fenster schaue, wo das Bellen der Hunde und Heulen der Wölfe zu mir dringt, wie ist er zu erreichen, der Regen, der mir die Kehle netzen könnte, aber unendlich weit von mir und unerreichbar hinter der Scheibe auf sie trommelt; – ein Marsch, dem ich nicht zu folgen in der Lage bin.
 
 Hinter mir…tiktak…eine Uhr,
 meine Stirn
 gegen…die…Scheibe!

Als bedürfte ich in meiner Angst Einengung, werde ich mir nun dem bewusst, was mir im Rücken liegt und akustisch mich erreicht. Die direkte sprachliche Abbildung des Geräusches »tiktak« erscheint als hilflose Geste, Vergehendes sprachlich zu fixieren und zu begreifen. Der Versuch des präzisen Ausgriffs auf Sprache bleibt gegenüber der Wirklichkeit ohnmächtig.

Die Front indes, die »Stirn«, verschiebt sich: das poetische Ich drückt sie in von Ellipsen durchsetzter Geste gegen die »Scheibe«. Ostentativ tritt hier die Trennung von Drinnen und Draußen hervor. Zugleich aber reflektiert sich diese Trennung bereits im Bild des Schädels, denn die »Stirn« ist die Scheidewand von Gehirn und Welt. Das übrigens eine im Zuge der Evolutionstheorie vieldiskutierte Frage: die nach der Abschottung der Nerven von der Welt und deren Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit.

An dieser Stelle, nach dem Ausrufezeichen, befindet sich die Peripetie des Gedichtes. Bis hierin herrschte die Kraft des poetischen Ichs, die Trennung zu überwinden, die Geliebte nahen zu sehen, die Zeit des Ausbleibens zu überwinden. Gewonnen wurde diese Kraft aus der Erinnerung an das Vereinigte der Vergangenheit.

 Nichts.
 Null…Komma…Null.

Jetzt aber kippt die Stimmung: »Nichts.« Die Bestimmung »Null … Komma … Null.« gibt in ihrer naturwissenschaftlichen Nomenklatur die Hilflosigkeit des poetischen Ichs zu erkennen. Während das »Nichts« noch metaphysische Anklänge hat, versucht die exakte Bestimmung Gewalt über die Welt zu erlangen: durch Präzision.

Der Nullpunkt des Meeresspiegels. Im Übrigen ist in »Nichts« noch immer etwas präsent, denn »nichts« ist privativ verkürzend für »nicht etwas«. Erst der folgender Vers bringt den tatsächlichen Einschnitt in der ursprünglichen Bedeutung von »Komma«, links und rechts steht die »Null«, vor dem poetischen Ich und hinter ihm.

 Alles
 vorbei!…Alles…dahin!
 Alles
 zerronnen, verloren,
 gewesen!

Genauso absolut wie »Null…Komma…Null.« tritt nun das Gegenteil »Alles« hervor. Das absolute Nichts wird beschworen. Aber auch diese Geste gibt sich als losgelöst, als ab-solut, von der Wirklichkeit zu erkennen. Der direkte Umschlag der Beschwörung von »Alles« und der sich anschließenden Verneinung »zerronnen, verloren, gewesen« ist in seiner Unvermittelheit zu scharf, um nicht einer komischen Komponente zu entbehren.

Ich will sagen, ja, ja, ich habe mit ihr geschlafen, mit ihrer zusammengeschrumpften Gestalt. Ihre unendlich dürren Glieder bogen sich vor mir, bäumten sich auf, ihre eingefallenen Brüste verhöhnten meinen Hunger und ihre rissigen Lippen schnitten die meinen im Kuss. Ihr Mund schmeckte nach Asche, die Haut als hätte einer Salz auf dieses Feld gestreut, aus dem mir nichts erwuchs in dieser Nacht, in der ich schrie, aber nicht liebte und schwitzte, aber immer und bis heute noch, durstig blieb. Verzeihen? Nein, So kommen die Jahre, ich sah eine Kuh verenden im Traum und mein Hafen liegt verlassen im Land, wo Zitronen blühen und für mich kein Zug mehr im Gleis steht. Alles ist eitel.

Vielmehr stellt sich die Frage nach dem »Zerrinnen« des Inhalts der Sanduhr, nach der »verlorenen« Zeit, nach dem Wesen des »Gewesenen«. Das poetische Ich hat seine Einheit verloren, wobei erst die Abwesenheit der Geliebten die Frage nach der Einheit so radikal zutage treten lässt. Übrigens damit auch die Frage nach der physischen Einheit des Ich und das Problem des Todes. In diesem Kontext ist auf Ernst Haeckels Monismus hinzuweisen, der wie andere Weltanschauungen um 1900, wie überhaupt die Lebensphilosophie, sich mit diesen Fragen befasste.

 Grau…der Himmel…grau
 die See
 und…grau…das
 Herz.

 Dieser Zweifel lässt alles »eintönig« »grau« werden. Das Drinnen, das »Herz« überlagert nun die Wahrnehmung vollkommen: der »Himmel«, die »See«, beides sieht das poetische Ich nicht vor sich, werden wie das »Herz« grau. Das Grauen, die Angst, dringt ins Innerste vor, paradoxerweise aber kommen so tristes Draußen und graues Drinnen zusammen: die Enge, die die Angst in dem poetischen Ich hervorruft, gibt dem Ich, das sich zu verlieren droht, letzten Zusammenhalt.

Das Sprechen in dieser Form des Gedichtes – die Setzung der Strophen, die zwischen Einheit und Vereinzelung wechselt, der Versbruch, das Metrum, die Auslassungszeichen – zeigt eine moderne Erfahrung. Mich erinnert das an Ernst Machs These vom »unrettbaren Ich«, das in Wahrnehmungspartikel zerfällt. Entstanden ist das Gedicht wohl im Umkreis der Jahrhundertwende, wo solche Erfahrungen und Fragen kulminieren.

Mich berührt die Erfahrung des auf sich zurückgeworfenen Ichs, die Konfrontation mit der Enge des Raumes, der verrinnenden Zeit, das leere Warten, die Zuspitzung des Grauens darin, und die Einfärbung der ganzen Welt mit diesem Gefühl. Es bleibt aber am Ende des Gedichtes etwas Hoffnungsvolles zurück: das »Herz« wird sich beim ersten Anblick der Geliebten auf dem Scheitel der Düne wieder in seiner Zersplitterung vergessen und wieder als Einheit fühlen.

Ja, es war grau und ist es auch immer noch und grau noch im Schwarzlicht, ich habe es angesehen, damals auf der Toilette, wo sie nicht wollen, dass einer sich totspritzt. Da habe ich auf sie gewartet und sie kam und brachte den Rausch, aber quälte sich trocken die Kehle hinunter und heute noch brennt es. Warum willst du es wissen? Ich weiß es nicht, ich glaube, ich musste es erfahren, dieses Jahr, wo der Wind meinen Weizen zerbließ, die Sonne die Erde zerspringen ließ und der Boden so trocken war, dass ich nicht einmal deine Spur finden konnte, als du gegangen warst; – wohin, ach, dass ich das alleine nicht weiß.

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Mein Kommentar:

Ich danke Paul Fehm sehr herzlich für diese intensive und sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem auf den ersten Blick unscheinbaren Text.

Recht modern sieht das Ganze aus, mit seinen sehr freien Zeilenumbrüchen, kurzen Versen und der eigenwilligen Interpunktion. Inhaltlich passiert nicht viel. Jemand steht am Fenster und sieht hinaus.  Es regent, eine Uhr tickt- ein Urbild des Wartens und des tatenlosen Verrinnens der Zeit. Wir haben ein ICH, wir haben eine Düne als Konstante und sonst: NICHTS.

Resignation und Vergeblichkeit klingen aus den gerade einmal 43 Worten, von denen viele auch noch mehrfach wiederholt werden. Kein Sprachfeuerwerk, keine Metaphernkaskaden prasseln hier. Der Regen ist Regen, die Uhr Uhr und letztlich ist alles grau und ein Gleiches. Hier ist vieles heruntergefahren auf seine Grundfunktionen, meint man. Aber Paul bemerkt richtig: am Ende ist noch was. Ein HERZ. Zwar auch ein graues, aber ein HERZ. Immerhin. Das Geschehen dieser minimalen Zeilen liegt ganz offenbar vor der festgehaltenen Szene und ein Danach steht vage im Raum. Paul hat es für sich und uns sehr schön mit Inhalt und Assoziationen gefüllt.

Mit seiner am Rande geäußerten Vermutung, das Gedicht sei wohl um die Jahrhundertwende entstanden, hat er vielleicht den ein oder anderen verblüfft.  So modern im Satz? So wenig schwülstig? Hier soll also ein Zeitgenosse Fontanes, Rilkes und Stefan Georges am Werk sein? –

Dennoch: genauer kann man es fast nicht treffen. 1898 erschien dieses Gedicht erstmals. -Chapeau!

Kunst= Natur-X. Es war eine Zeit, in der man noch Theorien zur Kunst entwickelte, auf der Suche nach totaler Veränderung der herrschenden Normen.  Die Wissenschaft erfasste nach und nach eine dunkle Ecke der Welt nach der Anderen. So wurden Formeln und Regeln auch auf die Kunst angewendet.

Kunst= Natur-X. Kunst ist also das Gleiche wie Natur, abzüglich einer gewissen Komponente. Naturalismus ist denn auch der Begriff, der für diese Strömung dieser Epoche gefunden wurde. Kunst solle der Natur möglichst nah kommen, wenig subjektiv daherkommen. Mit diesen Gedanken einher ging die Lösung von der strengen Form. Man bevorzugte die Abbildung von Realität, bis hinein in den Sprachgestus. Und da auch um 1900 die Menschen nicht in Reimen sprachen und dachten, löste sich die althergebrachte Form langsam auf.

Und nun lösen wir es auf. Von wem stammt dieser kleine Text, den Paul Fehm so treffsicher verorten und kenntnisreich besprechen konnte?

Er stammt vom führenden literarischen Vordenker dieser Zeit: Arno Holz.

Arno_holzArno Holz (* 26. April 1863 in Rastenburg, Ostpreußen; † 26. Oktober 1929 in Berlin) zählt zu den heute praktisch vergessenen Autoren.  Dabei war er vielleicht der wichtigste deutsche Dichter und Dramatiker des Naturalismus und Impressionismus.  Sein Hauptwerk, der Gedichtband Phantasus von 1898, dem dieser Text entnommen ist, gilt als Meilenstein in der modernen Poesie und stellt einen frühen Versuch dar, die klassischen Versformen zugunsten des freien Verses zu überwinden.

Arno Holz wurde in Rastenburg als Sohn eines Apothekers auf, betätigte sich zunächst als Journalist, dann aber freier Schriftsteller. Sein Gedichtband Buch der Zeit wurde 1885 mit dem Schiller-Preis ausgezeichnet.

Ab 1888 begann die enge berufliche Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf, mit dem Holz sogar zusammenlebte. In Gemeinschaftsarbeit entwickelten sie  die Theorie eines „konsequenten Naturalismus“, der auf möglichst genaue Milieuschilderung bestand und auch die Einbeziehung umgangssprachlicher Elemente abzielte. Zugleich sollte diese neue Literatur ohne Subjektivität auskommen und möglichst wissenschaftlich sein. So kamen sie zu der Formel „Kunst = Natur − x“.  Kunst sollte so weit wie möglich der Natur entsprechen und Aufgabe des Künstlers sei es, das x aus der Formel möglichst klein zu halten.  Diesen theoretischen Ansatz  wandten sie praktisch in den Werken Papa Hamlet und Die Familie Selicke an,  die unter dem gemeinsamen Pseudonym Bjarne P. Holmsen erschienen.

holz

1898 veröffentlichte Holz seinen Gedichtband Phantasus,  sein lyrisches Hauptwerk. Die erste Ausgabe erschien in Form zweier Heftchen a 50 Gedichten. Die Gedichte, fiktiv einem heruntergekommenen Poeten im Wedding zugeschrieben,  spiegeln das Milieu wider, in dem Holz seinerzeit in Berliner lebte.  Holz hat seinen Phantasus hat Holz fast sein ganzes weiteres Leben über immer wieder bearbeitet und erweitert.  1916 erschien der Band in einer neuen Fassung mit 336 Seiten.  Die letzte vom Autor selbst publizierte Fassung von 1924/25 ist 1345 Seiten stark. Formal ist der Band dadurch interessant,  dass die einzelnen Verszeilen zentriert sind, weshalb dieser Stil auch Mittelachsenlyrik genannt wird. Zeilenumbruch und Interpunktion folgen hier nicht mehr metrischen  oder grammatikalischen Regeln, sondern werden rein subjektiv, im Sinne des Gefühls eingesetzt.

tafelIch freue mich, erneut eine interessante und hochtalentierte Autorin für diesen Feldversuch gewonnen zu haben.

Anke Laufers Texte sind eine ganz eigene Kategorie. Keiner davon läßt mich kalt. Da steht Spannung neben Humor, feine Beobachtungsgabe neben handfesten Dialogen. Anke Laufer liebt ihre Figuren und gestaltet sie treffsicher und facettenreich. Dennoch kennt sie kein unnötiges Mitleid mit ihnen und führt sie in die fürchterlichsten Situationen. Und das mit einem trickreichen und sicherem Handwerk, dass es nicht wundert,  dass die Autorin bereits mehrere Auszeichnungen für ihr Schreiben erhalten hat.

In dieser Folge nähert sich Anke auf die bisher vielleicht überraschendste und kreativste Weise ihrem Blindverkostungstext. Viel Vergnügen!

Zur Autorin:

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Anke Laufer studierte Ethnologie und Politik in Freiburg im Breisgau. Sie promovierte im Jahr 2000, war anschließend im Verlagswesen und Multi-Media-Publishing beschäftigt und begann ihre  Dozentinnentätigkeit. Seit 2006 veröffentlicht sie literarische Texte, für die sie bereits Stipendien und mehrere Auszeichnungen erhielt, darunter den Deutschen Kurzkrimipreis 2009 und den Würth-Literaturpreis 2011.

Veröffentlichungen: (u.a.)

Die Irritation. 21 Stories. worthandel : verlag, Dresden, 2012.

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Weitere Infos über Ankes Bücher, Vorträge und sonstige Aktivitäten findet man  unter:

http://ankelaufer.com/

ankescreen

Hier der Text, den ich Anke zum blindverkosten ausgesucht habe:

text anke

Und Anke Laufers „Senf“ dazu:

Zufallstext

Ja, schon gut. Hör auf.
Da schreibt also einer seine „Morgenseiten“. Zugegeben, er macht es nicht auf diese egozentrische und weichgespülte Art.
Wie? Ihr wisst gar nicht, was „Morgenseiten“ sind? Kein Drama, wirklich nicht. Also: Die Idee stammt wohl ursprünglich von Natalie Goldberg, die solch (überaus erfolgreiche und alberne) Bücher verfasst hat wie „Der Weg des Schreibens. Durch Schreiben zu sich selbst finden.“ Amazon setzt erläuternd hinzu: Esoterik (womit Amazon das Produkt treffend kennzeichnet). Natalie Goldberg und die wachsende Zahl ihre Jünger, darunter nicht wenige SchreibwerkstättenleiterInnen glauben nämlich allen ernstes, dass man schreiben lernt, in dem man sich zuallererst und beinahe ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Um eins klarzustellen: Ich finde, wenn man überhaupt in den eigenen Geschichten vorkommen sollte, dann höchstens wie Hitchcock in seinen Filmen, in denen er in Zwei-Sekunden-Sequenzen an der Kamera vorbeihuscht, als Hundespaziergänger, zum Beispiel. Ein irritierter Blick zur Kamera hin war dabei das höchste der Gefühle. Nur wenn man ihn wirklich abpasst, kann man ihn entdecken, wenn nicht, ist das dann auch okay. Es gibt da ja diese nervenzerreißend spannende Geschichte, die gar nichts mit ihm zu tun hat. Scheinbar.
Aber ich schweife ab. Also: Dieser Autor schreibt seine Morgenseiten, fleißig und irgendwie ziellos, allerdings hat er beschlossen, dass diese sich nicht mit ihm selbst, sondern der Welt da draußen beschäftigen sollen. Um warm zu werden listet er Tatsachen, Halbwahrheiten und Behauptungen auf, die ihm auf Zickzackkurs durch den Kopf schießen wie Flipperautomatenkugeln.(In der Flipperautomatenzeit dürfte der Text wohl auch entstanden sein, schätze ich, aber das nur nebenbei)
Wie auch immer: Ein halbausgeschlafener Autor versichert sich der Welt, in dem er sie protokolliert, ein wenig hilflos scheint mir der Versuch und daher irgendwie rührend, möglich, dass ich das Gefühl ganz gut kenne. Wahrscheinlich ist es noch viel zu früh am Tag für ihn. Er muss seine Sinne erst zusammenraffen. Also tastet und tappt er herum, die Haare ungekämmt, in der Mundhöhle noch der Geschmack der schlechten Träume der vergangenen Nacht. Aufgrund dieser ziemlich deutlichen Vision lehne ich mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte: Der Autor dieser Zeilen ist ein Mann.
Und der Kerl hat ein Problem. Eindeutig. Wieso ich das weiß? Ich sag jetzt einfach mal nur: Erfahrung.
Mir kann er da wirklich nichts vormachen. Ich hab ihn (aus gutem Grund) nicht überlesen, diesen einen Satz, auch wenn er noch so beiläufig daherkommt: „Schriftsteller schreiben Romane“ behauptet unser Schreiberling. „Ja, klar“, rufe ich ihm über den Schreibtisch hinweg zu, „Oder eben auch nicht!“ und dann schnauze ich: „ Verdammt, geh endlich duschen, mach dir einen ordentlichen Kaffee, reiß dich zusammen. Vielleicht fällt dir dann etwas ein, aus dem eine gute Geschichte werden könnte, muss ja kein Roman sein.“
Zwischendurch klaubt er zu meiner großen Erleichterung etwas auf, das ausnahmsweise nicht nach seinen gebrauchten Socken riecht, sondern nach einer Story: Zwei Anhänger der koreanischen Religionsgemeinde Genri Undo Kenkyudai sind am Dienstag bei einer Gebetsübung unter dem Wasser­fall in Kuzumi (Japan) an Unterkühlung gestorben. „Na also“, sage ich, „geht doch!“, aber da macht er schon weiter wie gehabt und schreibt: Wir kennen keine Langeweile, hebt das zerknitterte Gesicht und grinst mir blödsinnig hoffnungsfroh entgegen. Jetzt werde ich wirklich sauer. „Hast du eine Ahnung!“  Aber dann tut er mir auch schon leid und ich fühle mich berufen, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen, wobei ich schnell merke, dass mir die Sache schon wieder entgleitet. „Hör mal, keiner sagt mehr ´Primaner` und überhaupt: Filme reißen nicht mehr, wenn man von deinem Filmriss absieht, den du wohl dem Besäufnis gestern zu verdanken hast. Aber glaub mir, der positive Einfluss von Alkohol und Drogen auf die literarische Schaffenskraft wird eindeutig überschätzt.“
Er ist jetzt natürlich ein bisschen eingeschnappt, aber ich schiebe ihm meinen Zettelkasten mit den alten Zeitungsausschnitten über den gemeinsamen Schreibtisch. „Wenn du da nichts findest, ist dir nicht zu helfen, echt. Ich mach jetzt Kaffee. Aber das nächste Mal bist du dran.“
Er fängt an zu kramen und während ich den Kaffee aufbrühe, liest er laut vor:
Quilca, La Punta und el Chorro heißen die Weiler im lang gezogenen Küsternort, in denen kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Enrique Gutierrez, der Bürgermeister, berichtete von zwei Kindern, die zum Zeitpunkt des Bebens und der Flutwelle allein zu Hause waren. Die Leichen der fünf und sieben Jahre alten Geschwister fand man später in den Trümmern. Sie lagen sich gegenseitig in den Armen.
Elsa Saile aus Beuren war die Botin. Sie kannte jeden Stein und jedes Haus mitsamt Bewohnern. Sie schleppte die Gebrauchsgegenstände der alten bäuerlich-handwerklichen Welt von einem Ort zum anderen – wo sie eben gebraucht wurden.
Der Vater der Unabhängigkeitserklärung habe zumindest ein Kind mit der 28 Jahre jüngeren schwarzen Sklavin Sally Hemings gehabt, erklärte die Thomas Jefferson Memorial Foundation.
Christine W. ist alleinerziehend. Sie lebt mit zwei Kindern sparsam und zufrieden in drei Wohnwagen. „Sonst müsste ich zum Amt“, sagt sie

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Mein Kommentar:

Na, so richtig festlegen mag sie sich nicht, die Anke Laufer. Und sie hat auch keine falsche Ehrfurcht vor diesem Text. Sie sieht den unbekannten Autoren einfach als Kollegen, der -genau wie wir anderen Schreiber auch- auf der Suche ist nach einem Sujet für einen Text, denn:  Schriftsteller schreiben Romane. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit reiht sich leise ein in all die anderen einfachen Wahrheiten. Sahne macht dick, Hunde bellen, Ferngespräche kosten Geld. -Ein wenig Mitleid hört man aus ihrem fiktiven Zwiegespräch mit dem gesuchten Autoren heraus, aber auch Verständnis!
Anke Laufer kennt dieses Ringen sicher auch, das Notieren und Sammeln von Meldungen, Berichten, Anekdoten, die irgendwo einen fast unsichtbaren Keim einer Geschichte in sich bergen und sie legt am Schluss ihrer Betrachtungen dem bedauernswerten Kollegen und uns sogar ein paar ihrer Zettel aus dem magischen Kästchen offen.
Sie vermutet einen männlichen Autoren (in unserer Korrespondenz für die heutige Folge spricht sie sogar von einem KERL) und sie hat Recht damit. Woran erkennt sie das? Bauchgefühl vermutlich. Es handelt sich sogar um einen ziemlichen KERL. Aber dazu später.
Irgendwann in der Flipperautomatenzeit verortet sie den Text und auf Nachfrage meint sie damit schon eine Zeit, die einige Jahrzehnte zurückliegt. Und es gibt ja noch ein paar andere Indizien: Brecht ist schon tod und die Politiker gehen hier nach BONN, aha! Da kann man also sagen: der Text ist nicht älter als 1956 und nicht jünger als 1999.
Eine ungefähre Verortung. Wie lange man sich schon bewußt ist, das Rauchen Lungenkrebs verursacht und ob die Polizeistunde de facto noch existiert, müsste man glatt recherchieren. Ansonsten gibt der Text mit seinen vielen Allgemeinplätzen nicht mehr her. Nein?
Mal zurück zu den einfachen Wahrheiten: Züge haben Verspätung, ja! Ampeln stehen auf Rot, ja! Der Kaffee wird kalt, ja verdammt- und immer viel zu schnell! Aber: gehen Politiker wirklich aus Überzeugung nach Bonn (oder heute: nach Berlin)? Sind wir wirklich Optimisten und kennen keine Langeweile, wie es hier zwischen anderen Allgemeinheiten behauptet wird? Das ist so eine Sache. Eher fragliche Dinge werden uns hier sehr beiläufig zum Abnicken untergeschoben.

UND: da ist er tatsächlich: dieser Fetzen einer Geschichte, den auch Anke Laufer mit geschultem Auge entdeckt. Zwei Anhänger der koreanischen Religionsgemeinde Genri Undo Kenkyudai sind am Dienstag bei einer Gebetsübung unter dem Wasser­fall in Kuzumi (Japan) an Unterkühlung gestorben. Aha! Und, wenn man genau hinsieht, ist da noch mehr. Auch warum der Amokläufer genau aufgeben musste und wie das ablief, wäre interessant. Und was geschieht mit der Mondsonde? Was plante denn der unbewaffnete Amerikaner und war das Fehlen einer Waffe dafür hilfreich oder fatal?
Dieser vermutlich männliche Autor streut hier doch mehr Krumen aus, als anfangs vermutet. Sie sind schwer erkennbar unter den üppig ausgebreiteten Nichtigkeiten, die einer näheren Betrachtung gar nicht würdig zu sein scheinen. Hier tastet jemand im Dunklen und findet tatsächlich das Ein oder Andere. Die Geschichten selbst- die müssten allerdings nich geschrieben werden. Aber vielleicht klappt es ja nach Ankes Kaffee und Ermunterung, wer weiß!

Sehr amüsant und klug -Ankes Auseinandersetzung mit dem Text. Auch so kann man es also angehen. Sicher die bisher ungewöhnlichste Folge der -Blindverkostung-. Meinen herzlichen Dank dafür!

Aber jetzt für die, denen die Detektivarbeit nicht zu kurz kommen soll:


Lösen wir es auf: der Text stammt von einem Autor, der Ende der sechziger Jahre eine Art Popstar unter den Literaten war, dessen Lyrikbände immense Auflagen hatten und der auch mit seinen kurzen Prosatexten erfolgreich war. An keinem Boxring und auf keiner Schickeria-Party fehlte er. 1969 erschien dieser Text in seinem Buch mit dem wunderbaren Titel: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde, das eine ganze Reihe derartiger Kurztexte enthält. Der Autor heißt Wolf Wondratschek, kein Unbekannter also und einer, der noch unter uns weilt und in den letzten Jahren durchaus wieder eine gewisse Beachtung findet, die in den 90er Jahren etwas nachgelassen hatte.

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1943 geboren  wuchs Wondratschek in  Karlsruhe auf.  Von 1964 bis 1965 war er Redakteur der Literaturzeitschift Text & Kritik.  Seit 1967 lebt er als freier Schriftsteller in München.  Wondratschek verweigert sich seit seinen literarischen Anfängen weitgehend dem Literaturbetrieb, gibt kaum Interviews und tritt selten auf. Zuletzt veröffentlichte er überwiegend Prosa.wond

Der hier vorgestellte Text ist folgendem Buch entnommen:

Wolf Wondratschek: Früher begann der Tag mit einer Schußwunde

Reihe Hanser 15, 1969

Hanser Verlag, München

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Ich freue mich, eine vielseitige und außergewöhnliche Kollegin für die heutige Folge gewonnen zu haben. Thyra Thorns Ideenreichtum, ihr Humor und ihr sehr eigenständiger Zugang zu Kunst & Literatur waren mir schon oft Inspiration und Bereicherung.

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Thyra Thorns künstlerisches Schaffen illustriert den Begriff multimedial  m.E. in Reinform.
Sie schreibt und veröffentlicht seit 2008, als bildende Künstlerin stellt sie ihre Gemälde seit den 80er Jahren aus (zuletzt im Januar 2013 im GRAZ, Regensburg) und seit 2011 macht sie Videos, die bereits international auf Festivals gezeigt wurden, darunter das                                                      7. ALFA-Multimediawettbewerb Karierte Maiglöckchen 2012 in Portugal http://creative.arte.tv/en/community/checkered-lilies-valley
und das Britische Filmfestival 2013 in Chesterfield http://creative.arte.tv/de/community/emotions-fall

Thyra Thorn wurde in Rendsburg/Schleswig Holstein geboren und wuchs in Regensburg/Bayern auf, wo sie seit ihrem Studium an der FU Berlin auch wieder lebt. Als Ethnologin hält sie Vorträge in verschiedenen kulturellen Einrichtungen, demnächst z.B. in der staatlichen Bibliothek zu St. Petersburg. Einblick in Thyra Thorns vielseitiges Tun gewinnt man auf ihrem Blog: http://www.anthropos4u.blogspot.com

Veröffentlichungen:
“Der Schwimmer” Geschichte in der(ebook) Anthologie “Hoffnung im Untergang”, C.von Kamp Verlag

Drei Gedichte in der Anthologie: “Die Welt im Wasserglas”, WortKuss Verlag 2011

Erzählung “Fette Liebe” im Worthandel Verlag DresdenFETTE_LIEBE_2_weisser_HG_small

Hier nun der Blindverkostungs- Text, den ich für Thyra ausgesucht habe:

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Und:

Was Thyra dazu einfiel:

Eine Gedichtinterpretation – und das mir! Das war in der Schule mein absoluter Tiefpunkt in Deutsch und hat mich tief verschreckt. Auch heute schreibe ich Gedichte nur, um meine eigene Sprache zu diziplinieren, oder wenn ich vom Vorträgeschreiben zu Prosatexten wechsele. Aber gut , ich versuchs:

Das Gedicht (5 Strophen à vier Zeilen) wirkt auf den ersten Blick recht klassisch. Der Rythmus/pro Zeile ist dreihebig (nennt man das so, ich weiß es nicht mehr genau?), mit weichen und harten Endreimen . Für einen Klassiker ist es aber nicht stringend genug durchkomponiert. In allen Strophen, außer in der zweiten!! – warum da nicht?, gibt eines Zeile mit vier Hebungen. Diese Zeilen stören den Fluß erheblich. Offensichtlich ist das meistens beabsichtig, z.B. in der Wiederholung in Zeile 4 (Kisten- Kasten) und in der letzen Zeile (Jugend-Jugend). In der Zeile 7 und in Zeile 16 wirken die Adjektive “alte” und “tiefe” hingegen überflüssig. Warum dann die Symmetrie stören?

Auf den allerersten Blick erschien mir das Gedicht als eine Mischung aus Heinrich Heine und Georg Kreisler: “Gemma Tauben vergiftn im Park….”. Aber es ist weder von dem einen noch von dem anderen. Beide können ja sehr boshaft werden, aber Heinrich Heine würde eher auf einen Endreim verzichten, als den Rhythmus so zu stören. Kreisler hätte die dritte Strophe schreiben können, aber insgesamt kann ich mir das Gedicht als Liedtext nicht vorstellen (eben auch wegen des Rhythmusses). Der Sinn des Gedichtes scheint ziemlich klar -eben der Mord an der Tante aus niederen Beweggründen – vom Tantenmörder ausgeführt und vermutlich eher von einem Mann geschrieben. Ich schätze mal, Frauen lassen die Täter in solchen Fällen doch eher zu Gift greifen – die Qualen des Vergifteten wären ja auch sehr schön zu beschreiben .

Die letzten zwei Zeilen des Gedichtes : “Ihr aber, o Richter, ihr trachtet.. .meiner blühenden Jugend- Jugend nach.” könnten ein Hinweis auf den Zeitraum sein, in dem das Gedicht geschrieben wurde. Nietzsche träumt schon 1873 von “einem Reich der Jugend”, Thomas Mann schreibt 1911 mit dem “Tod in Venedig” seine Ode an die Jugend und dieser Jugendkult mündet mit dem “Wandervogel” ja dann in die Hitlerjugend. (Von Stefan George ist das Gedicht aber auch nicht, der hätte viel mehr mit den Wörtern gespielt.) Das Gedicht ist auch nicht “elegant” genug um, um im zeitlichen Umkreis der “Decadence” Literatur entstanden zu sein -allein die leichtfertige Verwendung verschiedenster Tempi – von der 2. Vergangenheit bis zur Gegenwart – spricht dagegen. Aber natürlich – letztendlich rechtfertigt der Mörder seine Tat mit dem Vorrecht der Jugend (“ich war jung und brauchte Geld”) und beschuldigt die (alten) Richter des Neides und Ressentiments. Also ich glaube, dass das Gedicht irgenwann zwischen den zwei Weltkriegen geschrieben wurde.

Und Thyra verfasste außerdem noch  eine spontane Replik auf den Text, die mir ebenfalls sehr gefällt:

dietantenMein Kommentar: Ganz richtig. Der Inhalt des Gedichts ist klar, eher einfach. Ziemlich klassisch gereimt und ein wenig bös`. Jedoch nicht spitzfedrig genug für einen Heinrich Heine. Thyras Ausschlussverfahren ist ohnehin eine taugliche Methode. Für die Décadence ist der Text nicht lyrisch und wortmalerisch genug, für einen Stefan George z.B. viel zu profan. Überhaupt: nicht sehr elegant, der Tantenmörder. Mit der Verortung einige Jahrzehnte, ja ein Jahrhundert zurückzuspringen, ist ebenfalls eine gute Idee. Die Jugend als Kult, ob jetzt wie bei Nietzsche oder Thomas Mann, ist eine Strömung, die in diese Zeit gut passt. Hier natürlich ohne das Mystische wie im George-Kreis und ohne völkische Komponente wie einige Jahre später bei den Nazis. Mit -zwischen den Weltkriegen- liegt Thyra etwas daneben, aber nicht sehr! Der Text stammt von 1902 und ist tatsächlich (Thyra merkte es an) eher eine Art “Gebrauchslyrik”, denn trotz des beim Lesen etwas holprigen Rhythmusses war der Tantenmörder ursprünglich als Couplet zum Singen gedacht und wurde auch in dieser Form vorgetragen. Thyras Assoziation von Georg Kreisler (dem großen Verfasser bitterböser Chansons) ist also gar nicht schlecht! Überhaupt war der Autor des Stückes einer, der zweigleisig fuhr. Als Theaterdichter war er extrem erfolgreich und hat auch zwei, drei Stücke hinterlassen, die damals skandalös und mutig waren und dazu auch heute noch gespielt werden. Andererseits war der Dichter dem “Profanen” und der Auftragsarbeit nicht abgeneigt, begann er doch seine Karriere als Werbetexter:

“Was dem Einen fehlt, das findet / In dem Andern sich bereit; / Wo sich Mann und Weib verbindet / Keimen Glück und Seligkeit // Alles Wohl beruht auf Paarung; / Wie dem Leben Poesie / Fehle Maggi’s Suppen-Nahrung / Maggi’s Speise-Würze nie!”

Auch diese flotten Verse stammen vom Autor unseres heutigen Texte.

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Frank Wedekind, geboren am 24. Juli 1864 in Hannover; gestorben am 9. März 1918 in München, war einer der führenden Bühnenautoren seiner Zeit. Lulu, Die Büchse der Pandora, Frühlings Erwachen sind Stücke, die bis heute im Gedächtnis geblieben sind.Doch Wedekind war stets auch auf der Seite des anspruchsvoll-humoristischen zu finden, schrieb z.T. unter mehreren Pseudonymen für die Satire-Zeitschrift Simpliccissimus und trug seine eigenen Texte zur Gitarre im Münchener Kabarett Die 11 Scharfrichter vor. Eines seiner Couplets brachte ihm sogar eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung ein. aus Genau dieser Zeit stammt unser heutiger Text, den Thyra unter die Lupe nahm und dem sie zudem noch eine weiblich-moderne Variante hinzufügte.

Vielen Dank dafür!

Hier noch eine Art Selbstporträt der vielseitig begabten Probandin:

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Am kommenden Sonntag dann die 3. Folge der -Blindverkostung-. Gleiches Prinzip-ganz anderes Ergebnis! Die Blindverkosterin der nächsten Woche erhielt für ihre Werke mehrere Stipendien und ist Trägerin verschiedener Literaturpreise, u.a. des Deutschen Kurzkrimipreises 2009 und des Würth-Literaturpreises 2011 Sie beschäftigte sich mit dem ersten Prosatext dieser kleinen Reihe.

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FOLGE 1

Mit Freude eröffne ich heute die neue Kategorie Blindverkostung.
Und das direkt mit einem Highlight:

Als erster Autor hat sich Jost Renner der Aufgabe gestellt, einen ihm völlig unbekannten Text zu bearbeiten, dessen Entstehungszeit und Verfasser ich ihm erst am Ende dieses Artikels verrate.

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Jost Renner wurde 1960 geboren und lebt in Berlin. Sein erlernter Beruf ist der des Buchhändlers, somit sind wir Kollegen, was mich umso mehr erfreut. Sein Blog: http://liebesenden.twoday.net wird vom deutschen Literaturarchiv in Marbach archiviert und erfreut sich großer Beliebtheit.

In diesem Jahr erschien sein Gedichtband LiebesEnden im Mirabilis Verlag, ISBN 978-3-9814925-2-1.

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Hier nun der Text, den ich ihm für die erste Folge Blindverkostung ausgesucht habe:

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Und das Ergebnis seiner Beschäftigung damit:

Was wäre die Literatur, die Lyrik ohne den Traum ? Schon in der Genesis begegnen wir den Träumen des Pharao und den Deutungen des Joseph. Träume haben dort eine andere Funktion als in späteren Zeiten – sie warnen oder sind zumindest ein kleiner Einblick in zukünftiges Geschehen, ihr Wesen aber hat sich nicht verändert : sie kommen in Bildern, Symbolen daher, die einer Interpretation bedürfen, sie entwickeln dadurch – zumindest in der Erinnerung an sie – eine nicht zu vernachlässigende Vagheit, etwas Ambivalentes, Verschwimmendes.

Weitaus anarchischer kommt dann Shakespeare daher. Sein “Mittsommernachtstraum” ist ein Gebilde, das sich auf einer Ebene zwischen Traum und einer märchenhaften Wirklichkeit bewegt, und weder Figuren noch Zuschauer können sicher sein, ob das Geschehen nichts anderes gewesen ist als ein Traum. Erlebt jedenfalls haben alle Beteiligten es als höchst reales Geschehen.

Für die Romantik ist der Traum als Motiv vermutlich unverzichtbar, lassen sich doch Sehnsüchte, insbesondere unerfüllbare, damit trefflich beschreiben, lassen sich ideale Welten der Harmonie, der Liebe schaffen, damit durch das Erwachen auch möglicherweise deren Gegenteil : das Gefangensein im unerbittlichen Hier und Jetzt, das unendliche und Unerfüllbare der Sehnsucht.

Dennoch ist der Traum keineswegs immer angenehm : es gibt deren düstere Spielart, Schreckensszenarien apokalyptischen Ausmaßes, die zunächst in der späten Romantik auftauchen, dann aber vor allem im Expressionismus Platz greifen. Der expressionistische Dichter Georg Heym z.B. notierte seine Träume akribisch in einem Tagebuch, und sie waren selten angenehm. 1910 beschrieb er einen Traum, in dem er beinahe ertrunken wäre, ein Schicksal, das ihn 1912, diesmal ohne guten Ausgang, ereilte.

Etwa in diesem Zeitraum wurden Träume und deren Deutung auch gesellschaftlich relevant – Freud veröffentlichte 1899 seine Traumdeutung, später folgt C.G. Jung, der sich auch in seiner Sichtweise scharf von Freud, seinem Lehrer, abgrenzt.

Der mir vorliegende Text ist unzweifelhaft ein Gedicht. Endreime, Versmaß und Strophenform qualifizieren ihn als solches. Den Autor weiß ich nicht zu nennen, dem Inhalt nach entstammt er allerdings nicht der Romantik, wiewohl – etwa mit dem Wort “Märchenbuch” – Anklänge durchaus vorhanden sind. Eher weisen “Anderssein”, “Vielfachheiten” auf das zwanzigste Jahrhundert hin, da sich die Frage der “Identität” in der Romantik selten stellte. Unzweifelhaft ist der Traum in diesem Gedicht dennoch eine Art Freiraum, eine Befreiung aus dem Alltäglichen, möglicherweise einer gesellschaftlichen Rollenzuweisung. Diese mag durch die Arbeitswelt oder bürgerliche Konventionen erfolgt sein. Auch dies verbindet – ein wenig – mit der Romantik, denkt man daran, daß der “Taugenichts” oder auch der Protagonist aus E.T.A. Hoffmanns “Der goldene Topf” allenfalls in einer Märchenwelt, nicht aber in der bürgerlichen Gesellschaft glücklich werden können. “Traum II” erzählt von Freiheit, allerdings mit zweifelhaftem Ausgang : sie mag Schreiben ermöglichen, aber genauso gut auch wieder verwehen. Vielleicht ist der Traum kein Traum, sondern allein ein Bild des schöpferischen Prozesses, der nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein muß. Eine gewisse Vagheit, etwas zwischen Schlaf und Wachen scheint mir gegeben. Ich neige dazu, den Text einer Autorin, nicht einem Mann zuzuordnen, kann diese allerdings ohne gezielte Suche nicht identifizieren, nur strikt behaupten, Else Lasker-Schüler sei es nicht. Die Weiblichkeit der Verfasserin scheint mir gerade dadurch stimmig, daß deren Alltagsrolle durch die bürgerliche Gesellschaft weitgehend festgelegt, bestimmt wurde. Gleiches aber mag auch für einen Mann gelten, dessen Broterwerb – wie bei Kafka – das Dasein in organisierten Strukturen notwendig machte. Ich halte den Text für recht gelungen, denoch störe ich mich ein wenig an der Abfolge kurzer Hauptsätze in der ersten Strophe, die dem harmonischen Versmaß, so scheint es mir, entgegen arbeiten.

Kommentar: “Was wäre die Literatur, die Lyrik ohne den Traum?” -Ein sehr schöner Einstieg, den Jost hier gewählt hat. Allgemeingültig und für diesen Text natürlich passend, da es sich, laut Betitelung, um einen Traum -den Zweiten von vermutlich mehreren- handelt. Josts Verortung des Textes ins 20. Jahrhundert und seine Tendenz, mit den Assoziationen von Freud und Jung, eher zum frühen 20. Jahrhundert, treffen tatsächlich ins Schwarze. Das Gedicht entstammt dem Expressionismus. Und auch mit der Vermutung, der Verfasser sei weiblich, aber nicht die wohl größte und bekannteste expressionistische Dichterin: Else Lasker-Schüler, hat er Recht. Jost spürt in seiner Interpretation sehr sicher die Verbindung zu romantischen Motiven auf, die vielen expressionistischen Dichterinnen näher scheinen als ihren männlichen Kollegen. Nah, sehr nah kommt er mit seiner Beschäftigung dem tatsächlichen Ursprung des Textes. Ein gelungener Einstieg in diese neue Reihe, für den ich Jost noch einmal herzlichst danken möchte.

Und nun zur Auflösung:
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Josts Text stammt von Emmy Hennings (* 17. Januar 1885 in Flensburg; † 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano). Hennings war als Schriftstellerin und Kabarettistin tätig und bildete, zusammen mit ihrem späteren Ehemann Hugo Ball eine Art Schnittstelle zwischen Schwabinger Boheme, Dada und dem Kreis um den Monte Verita. Emmy Hennings war nicht nur Autorin, sondern trat auch auf den Kleinkunst-Bühnen Münchens und im berühmten Cabarét Voltaire auf, wo sie tanzte und rezitierte. Sie verband eine lebenslange Freundschaft mit Hermann Hesse, dessen erster Biograph ihr Ehemann Hugo wurde.  Sie zählt zu den zahlreichen fast vergessenen Autorinnen ihrer Zeit, die inmitten der damaligen Strömungen standen und oft außerordentliche und typische Texte ihrer Epoche verfassten, leider ohne damit in den Kanon der Literaturgeschichte einzugehen.

Ihr Gedicht ist folgender Anthologie entnommen:

In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu TodLyrik expressionistischer Lyrikerinnen
Herausgeber: Hartmut Vollmer, Igel Verlag, Hamburg 2011
ISBN 9783868155266

2 Antworten zu “blindverkostung

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