Sebastian Guhr: Mr. Lincoln & Mr. Thoreau -eine Art Rezension-

Ich bekenne direkt: Ich bin ganz schön neidisch auf den Kollegen Sebastian Guhr, der mit Mr. Lincoln & Mr. Thoreau just einen Roman vorlegt, den ich selbst jederzeit hätte schreiben wollen.

Meine Vorliebe für reale historische Stoffe und Figuren, für tiefgehende Recherche und eher kleinere Romanformen ist vielen vielleicht schon bekannt. Sebastian Guhr liefert in seinem Buch all das und er tut das mit so viel handwerklichem Geschick und Raffinesse, dass ich weniger erblasse, vielmehr wiederum leicht neidgerötet frage: Warum bist Du nicht auf diesen Stoff gestoßen?!

Abraham Lincoln und Henry David Thoreau, der US-Präsident und der Eremit und Waldschrat, Verfasser des Klassikers Walden oder Leben in den Wäldern.

Guhr schreibt keine Romanbiografie. Auch fokussiert er sich nicht auf die größten Zeiten seiner Protagonisten. Lincolns politische Erfolge sind nicht das Thema und bei Thoreau wuchs der Ruhm ohnehin erst posthum.

Vielmehr werden beide in ihrem (vorläufigen) Scheitern, in Krisen und mit ihren Unzulänglichkeiten gezeigt.

Lincoln, leicht unbeholfen im Umgang mit Menschen (besonders Frauen), ein Verfechter des Rechts und des Gesetzes, ist von ständigen Selbstzweifeln geplagt. Der „schwarze Hund“ hat sich seiner bemächtigt und muss in einer hinreißenden Szene ausgetrieben werden.

Thoreau, Erbe einer angesehenen Bleistiftfabrik und Freigeist, Freund von Ralph Waldo Emerson, streitet für die Freiheit- seine eigene und die allgemeine. Politik scheint ihm verdorben und keine Regierung geeignet, das Volk angemessen zu vertreten und zu lenken. Sein Experiment, eine Zeitlang in einer selbstgezimmerten Hütte am See zu leben, stößt auf Unverständnis und bringt ihm einen zweifelhaften Ruf ein. Für die Einen ist er der „Anführer einer Gruppe von Heidelbeerpflückern“, Andere möchten ihn für ihre radikaleren politischen Ziele vereinnahmen und tatsächlich wird eine Gefälligkeit für ihn verhängnisvoll. Sein Buch Walden wird lange nicht fertig und als es erscheint, bleibt seine Wirkung überschaubar.

Sebastian Guhr porträtiert beide Protagonisten abwechselnd in kurzen Kapiteln. Eine Komposition, die folgerichtig und stringent ist. Tatsächlich lässt er eine kurze persönliche Begegnung geschehen, da Wirkungs- und Bekanntenkreise beider Hauptfiguren sich überschneiden. Aber -wiederum vollkommen richtig und logisch- lässt der Autor seine Protagonisten sich nicht erkennen. Ansonsten besteht die Verknüpfung der Hauptfiguren aus dem Wissen umeinander, der Lektüre von Artikeln und Schriften über oder vom jeweils Anderen.

Guhrs Sprache ist geradlinig, treffsicher und genau. Mit großem Gespür für psychologische Zusammenhänge zeichnet er beide Protagonisten und auch zahlreiche interessante Nebenfiguren. Größere blumige Ausschweifungen bleiben aus, der Fokus liegt auf den Figuren und deren Tun.

Der Anspielungen auf aktuelle Themen sind viele und die oftmals als „gute alte Zeit“ verklärte Vergangenheit wird erkennbar als ebenso schlimmes politisches  und gesellschaftliches Haifischbecken.

Vergessen wir nicht die teils schwierigen, teils hinreißend zarten Liebesgeschichten des jungen Abe Lincoln.
Vergessen wir nicht die unglaublich witzige Duellgeschichte und die drollige Rolligkeit der Gemahlin Ralph Waldo Emersons gegenüber Thoreau, als deren Gatte für längere Zeit außer Hause weilt.

Ach ja: Vergessen wir nicht die herrliche haptische Gestaltung des Umschlags!

Alles in Allem: Mr. Lincoln & Mr. Thoreau ist in Sprache, Konzeption und Komposition in meinen Augen nahezu perfekt gelungen. Ein anspruchsvoller, aber immer äußerst unterhaltsamer historischer Roman mit messerscharf gezeichneten Figuren, guten Dialogen und der von mir hochgeschätzten Prise Humors.

Da ich aus meinem Wilde & Hamsun-Roman und anderen Texten um die Verlockungen weiß, jede –aber auch wirklich JEDE) mühselig aufgetane und hoch spannende Quelle zu verarbeiten, muss ich auch Sebastian Guhrs traumwandlerische Sicherheit bemerken, Material, Fiktion und Realität zu gewichten. Dem Roman muss eine umfangreiche Recherchephase vorangegangen sein- dennoch ist der Text nicht mit Fakten, Zahlen, Daten und Nebenschauplätzen überfrachtet. Er ist angenehm schlank, aber fundiert.

In seiner Vorbemerkung zum Buch verrät Guhr, die Originalquellen haben ihm als Sprungbretter gedient und wenn er die Wahl hatte, habe er sich für die literarische Lösung und gegen die historisch korrekte entschieden. Diese Haltung erscheint mir die einzig richtige im Umgang mit solch einem Stoff und wir verdanken ihr ein großartiges Buch! Mehr Spaß hatte ich seit Langem nicht mehr mit einem Roman und meine Lust daran federt sogar meinen Neid ab, ihn nicht selbst geschrieben zu haben!

Sebastian Guhr
MR. LINCOLN & MR. THOREAU

Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten
S. Marix Verlag
erschienen am 19. Juni 2021
ISBN 978-3-7374-1173-8
€ 20.00

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