Die rätselhaften Dokumente des Mr. O.W.

In der Tribune vom 04.06.1906 berichtete Robert Ross, Oscar Wildes Freund und Testamentsvollstrecker:

„Im April 1895 beauftragte mich Wilde, in seine Wohnung zu gehen und von seinen sämtlichen unveröffentlichten Manuskripten Besitz zu ergreifen. Er war nämlich bankrott erklärt worden und saß schon in Untersuchungshaft. …Ich entdeckte, dass die „Florentinische Tragödie“, die Niederschriften zweier anderer unveröffentlichter Stücke … und die erweiterte Fassung des Essays „Das Porträt des Herrn W.H.“ rätselhafterweise verschwunden waren. Jemand muss vor mir da gewesen sein.“

Und tatsächlich gab es immer wieder Rätsel, Unklarheiten und Wunderliches um einzelne Werke des Dandys aus Dublin.
Die beiden weiteren Dramen, die Ross in obigem Bericht als gestohlen vermutete, waren Die Herzogin von Padua und Die heilige Buhlerin. Vom ersten existierte gottlob bereits eine schriftliche Fassung für die Bühne, das Manuskript des zweiten wurde 1897 von einem Freund Wildes in einem Londoner Antiquariat gefunden, für wenig Geld erworben und zu seinem Verfasser geschickt, der sich mittlerweile im Pariser Exil befand.

Die Florentinische Tragödie blieb verschollen- bis Wilde sich mitten im Trubel um seinen Prozess, seine öffentliche Schmähung und seinen finanziellen Ruin, an eine frühere Fassung erinnerte. Wiederum ließ er Ross danach suchen, der sie letztlich unter alten Aufzeichnungen fand, unvollständig und unbeendet, aber dennoch.
Dies alles geschah in den turbulenten Tagen rund um Wildes Verhaftung.

oscarwildesalelargeNur wenig später,  am 24. April wurde Wildes gesamter Besitz öffentlich und in Anwesenheit der Ehefrau Constance versteigert, um Geld locker zu machen. Von Wildes umfangreicher Bibliothek über die Kunstgegenstände bis zum Zinnsoldaten der Söhne und den Nachttopf kam alles unter der Hammer.
Im Verlauf dieser Versteigerung gab es zahlreiche Diebstähle, aus reiner Gier oder aus dem hehren Antrieb einiger Bewunderer, wenigstens ein paar persönliche Dinge zu „retten“. Es wurde -Anwesenden zufolge- auch wahllos in Papieren gewühlt und -wer weiß- es könnten Manuskripte darunter gewesen sein.

Die Vorstellung ist sicher reizvoll und vielleicht befeuerte sie auch manch spätere Spekulation.

CollinCravanWildes Neffe, Fabian Avenarius Lloyd, der unter dem Namen Arthur Cravan bekannt wurde und heute als DADA-Pionier verehrt wird, war für jede aufsehenerregende Aktion zu haben. Nicht nur trug er einen Boxkampf gegen den ehemaligen Schwergewichts-Weltmeister Jack Johnson aus, den er verlor, aber mit dem Kampfgeld seine Überfahrt nach New York finanzierte- 1913 veröffentlichte er einen Artikel,  in dem er angab, sein Onkel Oscar habe ihn in Paris besucht. Er erfreue sich bester Gesundheit und sei seit seinem vorgetäuschten Tod durch Indien und Indonesien gereist.

cravanDem Pariser Korrespondenten der New York Times war dieser Bericht eine Recherche und einen großen Artikel wert, in dem behauptet wurde, es gäbe niemanden, der Wildes Leiche gesehen habe. Aus dem Artikel vom 09.09.1913:
Auf unsere Bitte hin sprach unser Korrespondent er mit Arthur Cravan, dem Neffen des Dichters, und nach seiner Rückkehr gab er folgende Auskunft: „Ich bin fast überzeugt, dass Cravan Recht hat und Oscar noch unter den Lebenden ist. Er erzählte, dass Wilde ihn am 23.3. diesen Jahres in seinem Apartment besucht habe und einige Stunden geblieben sei. Ein Imitator sei es unzweifelhaft nicht gewesen. Laut Cravan ist er jetzt ziemlich kahl und das Haar, das noch verbleiben ist, sei weiß. Außerdem hab er sich einen langen Bart wachsen lassen. Sein Teint sei bronzen, das sei den südlichen Ländern geschuldet, in denen er sich seit seinem Verschwinden aufgehalten habe. Auf alle meine Einwände hatte Cravan eine Antwort parat. Ich bin mir beinahe sicher, dass wir eines Tages Oscar Wilde in Paris wiedersehen werden.

Cravan legte schließlich nach und behauptete, im Grab seines Onkels befänden sich keineswegs dessen Überreste, sondern vielmehr zwei unveröffentlichte Manuskripte. Er wette 500 Dollar darauf, aber die französische Regierung schlug die Wette aus und verweigerte eine Exhumierung.

Cravan selbst ging, nach einer Begegnung mit Leo Trotzki nach Mexiko, betrieb eine Boxschule und absolvierte noch mehrere Kämpfe. 1918 kehrte er von einer Bootstour nicht zurück. Seine Leiche wurde nie gefunden und obwohl er 1920 für tot erklärt wurde, hielten sich auch hier Gerüchte über sein Weiterleben im Geheimen.

Und dann ist da -andersherum- noch der Roman Teleny, der heute unter Wildes Namen erscheint. 1893 anonym in einer Auflage von nur 200 Exemplaren in London herausgegeben, ist Wildes Autorschaft hier bis heute nicht gesichert. Die Vermutung, die homoerotische Liebesgeschichte stamme von Wilde, geht auf den Buchhändler Charles Hirsch zurück. Dieser arbeitete in der Librairie Parisienne, wo er  für mehrere Freunde Wildes zuständig, die allesamt Exemplare des Manuskriptes erhielten, was Hirsch aufhorchen ließ.  Eine Durchsicht zeigte mehrere unterschiedliche Handschriften, von denen eine der Handschrift Wildes glich. Hirsch vermutete daraufhin, dass Wilde das Manuskript gemeinsam mit Freunden verfasst hatte oder zumindest für die endgültige Druckversion verantwortlich zeichnete. Geklärt ist das nicht.  Erst 1966 erschien der Roman unter dem Namen Oscar Wilde, allerdings in einer zensierten Version.

So bleibt ein vorhandenes Wilde-Buch so rätselhaft wie einige Verlorengeglaubte oder nie Geschriebene und viel Nebulöses um den undurchschaubaren Dandy. Da liegt es nahe, zu spekulieren und ihm allerlei zuzutrauen.
Es gibt nicht umsonst sogar eine Krimi-Reihe mit ihm als Hauptfigur und auch ich beschäftige mich erneut mit ihm.
Nach meinem im Herbst erschienenen Roman: Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun, in dem einiges des oben geschilderten erzählerisch auftaucht, verarbeite ich derzeit für eine Anthologie die zahlreichen mysteriösen Todesfälle im Dorian Gray als Persiflage auf den klassisch englischen Krimi.

cover passagenblog

Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun

Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Verlag: Stories u. Friends
ISBN-13: 978-3942181846
19,90 €

 

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